Nach dem pragmatisch-souveränen Sieg im Viertelfinale der WM 2014 gegen Frankreich erwartet die deutsche Mannschaft gegen Brasilien (Dienstag, 22:00 Uhr live im ZDF und bei uns im Liveticker) viel Feuer und Temperament. Schönspielerei war im brasilianischen Fußball gestern, die Selecao 2014 setzt auf Härte, Kampfgeist und - seit dem Ausfall von Superstar Neymar und der Gelbsperre von Thiago Silva - unbändige Emotion. Doch gerade auch darin liegt eine Schwäche des Gastgebers.
Kurze Zeit machten Gerüchte die Runde, der Deutsche Fußball-Bund würde den Einspruch des brasilianischen Verbandes gegen die Gelbsperre von Thiago Silva unterstützen. Der DFB wolle im Halbfinale der Weltmeisterschaft schließlich gegen die beste Selecao bestehen. Jetzt, wo in Neymar der Star der Brasilianer ohnehin schon für den Rest des Turniers ausfällt. Der DFB hat sich gewiss einen Namen gemacht mit seinem sozialen und karitativen Engagement. Aber er hat sich selbstverständlich komplett rausgehalten beim absurden Einspruch der Brasilianer gegen die Sperre ihres Kapitäns.
Deutschland will ins Finale, und auch wenn am Dienstagabend im Estadio Mineirao in Belo Horizonte eine gelbe Wand aus 60.000 Leibern wartet, wenn Brasilien seinen Heimvorteil voll auskosten wird, wenn die Selecao zuletzt sachte Fortschritte in ihrem Spiel erkennen ließ - trotzdem geht die DFB-Auswahl in ihr viertes WM-Halbfinale in Folge keineswegs als großer Außenseiter.
Stil der Deutschen ist reifer
Nimmt man die bisherigen Erkenntnisse des Turniers als Referenz, erscheint der Stil der Deutschen reifer, erwachsener. Joachim Löws Mannschaft hat den schwierigen Spagat zwischen Offensivlust und defensiver Sachlichkeit mit kleineren Ausnahmen gut hinbekommen. Das 4-3-3 hat sich in der Defensivbewegung bewährt, die im defensiven Mittelfeld zusätzlich eingebaute Ebene mit dem klaren Sechser und den beiden Spielern auf den Halbpositionen macht ein Durchkommen für den Gegner schwerer und begünstigt den strukturierten Spielaufbau.
Hier haben die Brasilianer bisher kaum geahnte Probleme offenbart. Die Spieleröffnung aus der Abwehr und über das defensive Mittelfeld erfolgte nur schleppend, ehe der Ball endlich in den Füßen von Neymar landete. Der fehlt nun gegen Deutschland, ebenso wie Thiago Silva, der beste Passgeber, Zweikämpfer und Kopf der Mannschaft. Die Abhängigkeit von Neymar war augenscheinlich und beraubt Brasilien in der Offensive gleich zwei eminent wichtiger Stilmittel: Zum einen war es bisher vorwiegend der Superstar, der im letzten Angriffsdrittel für Torgefahr sorgte. Und zweitens lebte das Spiel der Selecao vom Individualismus und der Spontaneität ihrer Offensive. Aber außer Neymar konnte bisher kein anderer Angreifer überzeugen.
Problem der Brasilianer
Fred war bisher als einziger Stürmer ein Schwachpunkt im 4-2-3-1, Oscar musste zuletzt viele Defensivaufgaben übernehmen, wenigstens Hulk zeigte aufsteigende Form. Immerhin dürfte es mit der Rückkehr des zuletzt gesperrten Luiz Gustavo im defensiven Mittelfeld zu noch mehr Stabilität kommen. Ein Pluspunkt - und zugleich auch ein großes Problem der Brasilianer - ist die Rolle der beiden Außenverteidiger. Marcelo und Dani Alves oder Maicon treiben unermüdlich nach vorne an, ganz anders als etwa die gelernten Innenverteidiger aufseiten der deutschen Mannschaft. Brasilien spielt bei eigenem Ballbesitz in einem 2-4-3-1, weil die Außenspieler bis auf Höhe der Mittellinie aufrücken. Das entfacht gerade auch durch die individuelle Klasse der Spieler Druck nach vorne. Es offeriert dem Gegner aber auch jede Menge Platz in deren Rücken.
Für Akteure wie Thomas Müller, Mesut Özil oder Andre Schürrle mit ihrer Schnelligkeit ein Terrain, auf dem sie sich austoben könnten. In der Zentrale konnte Paulinho bisher allenfalls in der Defensive überzeugen. Das Passspiel und seine Gewandtheit unter Gegnerdruck sind schwach, das deutsche Mittelfeld dürfte sich wohl mit Vorliebe Paulinho als Pressingopfer aussuchen und die Fallen dementsprechend stellen.
Thiagos Ausfall schmerzt die Selecao mindestens so wie der von Neymar, ist der Kapitän doch Führungsfigur und Abwehrchef in einem. Mit seinem Ersatz Dante und David Luiz bilden zwei sperrige Spielertypen die Innenverteidigung. Das verspricht die Lufthoheit, am Boden haben beide gegen wendige Spieler aber einige Probleme.
Deutschland braucht Mario Götze
Deutschland braucht unbedingt ein sichereres Passspiel im letzten Angriffsdrittel und einen kreativen, kleinen Spieler in der Sturmmitte, der sich mit kurzen Doppelpässen in den Rücken der Viererkette bewegen kann - ein Anforderungsprofil, dem Mario Götze vollends entspricht. Neben dem zu erwartenden Götze kommt ausgerechnet Özil auf dem linken Flügel eine weitere entscheidende Rolle zu: Brasilien war sich in einigen Phasen einer Partie auch nicht zu schade, auf die längst verpönte Manndeckung zurückzugreifen. Özil, der bisher alles andere als zweikampfresistent erschien, dürfte ein ähnliches Schicksal erwarten, sobald er sich in die Mitte orientiert.
Dabei ist gerade die rechte brasilianische Abwehrseite die Schwachstelle, mit Alves oder zuletzt Maicon, die beide Probleme in der Defensive und im Antritt haben und mit einem Spieler wie Özil, der im Eins-gegen-Eins viele Richtungswechsel einbaut und mit einem Kontakt in die Spitze zu spielen vermag, nur schwer zurecht kommen dürften. So anfällig die rechte Seite der Selecao ist, so gefährlich ist die linke Flanke der Gastgeber. Marcelo und Hulk finden immer besser zueinander. Philipp Lahm wäre der logische Gegenpart, der auch bei den zu erwartenden Konterattacken der Brasilianer das nötige Gespür für seine eigene Positionierung hätte.
Brasilien beherrscht Standards
Besonders offensiv sollte Deutschland die Gastgeber nicht erwarten. Brasilien spielt ungemein europäisch, vertraut im Angriff aus seine gnadenlose Effizienz und die gefürchteten Standards. Das schnelle Umkehrspiel hat sich längst etabliert. Vom "Joga Bonito", dem schönen Spiel, ist kaum noch etwas übrig. Brasilien spielt mit Herz, Leidenschaft und totalem Einsatz. 96 Foulspiele und zehn Gelbe Karten (Deutschland: 57 Fouls, vier Gelbe Karten) bisher sind mit Abstand der Höchstwert aller Teilnehmer, die deutsche Mannschaft sollte sich also besser mit einer sehr groben Gangart vertraut machen.
Umso überraschender wirkt deshalb auch die Erhebung der FIFA, die für Brasilien lediglich 106,8 Kilometer Laufleistung ausweist. Deutschland hat über acht Kilometer pro Spiel zurückgelegt und liegt bei 115,3 Kilometern. Das ist kein Grund zu überbordender Euphorie. Aber doch eine beruhigende Gewissheit: Die deutsche Mannschaft ist von den vier verbliebenen Mannschaften offenbar die fitteste.
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