Ganze acht Sekunden brauchte die deutsche Nationalmannschaft, um die Führung gegen Frankreich zu erzielen. Der Treffer von Florian Wirtz folgte direkt auf den Anstoß. Ebenso wie das Tor von Christoph Baumgartner für Österreich. Anstöße werden dem Anschein nach zur neuen Form von Standardsituationen.

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Trainiert hatten die deutschen Nationalspieler das 1:0 gegen Frankreich nicht, lediglich auf der Leinwand angeschaut, wie Wirtz im Nachgang erklärte. Der Ideengeber für den Treffer von Florian Wirtz war Individualtrainer Mads Buttgereit. Der Däne arbeitet seit 2021 im Stab der Nationalmannschaft und gehört zu einer Riege von Assistenztrainern, die sich speziell auf Standardsituationen konzentrieren. "Die Standardtrainer haben ja genug Zeit gehabt - vier Monate - sich was auszudenken", kommentierte Toni Kroos das Ganze nach dem Spiel im ZDF auf gewohnt launige Art. Es sei "in der Tat so geplant" gewesen.

Mittlerweile existieren seit einigen Jahren ausgeklügelte Eckballvarianten, bei denen kreuzende Läufe und dergleichen die Deckung des Gegners aufbrechen sollen. Aber Anstöße wurden bis vor kurzem eher vernachlässigt. Gelegentlich sah man ein Team, das auf Kommando nach eigenem Anstoß die Offensivspieler nach vorn schickte und von hinten heraus einen langen Ball spielte, um eine womöglich schläfrige Defensive zu überraschen. Aber das war es eigentlich auch schon.

Natürlich sind Anstöße nicht mit Eckbällen zu vergleichen. Dafür ist der Abstand zum Tor deutlich größer und die angreifende Mannschaft muss erst einmal nach vorn kommen. Dass aber zu Spielbeginn ein Team noch nicht ganz auf der Höhe des Geschehens ist und erst noch warm werden muss, mag auch wenig überraschen. Deutschland profitierte gegen Frankreich davon, den ersten Anstoß zu haben, und dass die Variante derart präzise ausgeführt wurde.

Kroos bluffte mit seiner Pirouette

Konkret bewegten sich Kai Havertz und Jamal Musiala nach dem Anstoß direkt in Richtung Strafraum, wodurch sich die französische Viererkette zurückdrängen ließ. Wirtz positionierte sich unterdessen im Raum vor der Abwehr, während Kroos noch in der eigenen deutschen Hälfte eine Pirouette am Ball drehte. Auf diese Weise lockte er das französische Mittelfeld ein Stück weit raus, weil der Eindruck entstand, Kroos würde den Ball eher zu den deutschen Innenverteidigern zurückspielen. Doch plötzlich spielte er den Ball steil auf Wirtz. Die französischen Verteidiger hatten keinen Zugriff, auch weil Havertz dafür sorgte, dass er seinen Gegenspieler Benjamin Pavard nach links mit sich zog und dadurch Jules Koundé, der nominelle Gegenspieler von Wirtz, keinen freien Laufweg auf den Torschützen hatte.

"Der Anstoß war so geplant, war herausragend von Standardtrainer Mads Buttgereit vorbereitet", sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann im ZDF. Es mag nicht überraschen, dass Buttgereit eine Weile beim FC Midtjylland aktiv war und von 2017 bis 2019 bereits beim dänischen Erstligisten als Individualtrainer fungierte. Midtjylland gilt als einer der ersten Clubs, der sich sehr stark auf statistische Analyse und Big Data konzentrierte und, darauf basierend, Spieler scoutete und die eigenen Leistungen auswertete.

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Mittlerweile tun das immer mehr Clubs, die durch die immer wiederkehrende Ausführung von Standardsituationen natürlich gewisse Muster sowohl für die Offensiven als auch für die Defensiven herausarbeiten können. Auch in Deutschland ist das zu beobachten – Clubs wie RB Leipzig setzen sehr deutlich auf "Advanced Stats". Ausgeklügelte Anstoßvarianten sind wiederum beim FC St. Pauli, dem Tabellenführer der 2. Bundesliga, zu sehen. Die Hamburger unter Cheftrainer Fabian Hürzeler entlehnen viele ihrer Ideen anderen modern spielenden Teams in Europa, wie beispielsweise dem englischen Erstligisten Brighton & Hove Albion mit Cheftrainer Roberto De Zerbi.

Es ist zu erwarten, dass wir künftig vermehrt ambitionierte Teams mit Anstoßvarianten ähnlich wie jener des deutschen Teams sehen werden. Die Folge könnte sein, dass wiederum auch die Verteidigung dieser Varianten einen Schwerpunkt in Trainingseinheiten bilden wird. So war es auch mit der immer häufigeren Hybridverteidigung aus Mann- und Raumdeckung gegen Eckbälle. Treffer nach acht Sekunden dürften also auch künftig eher die Ausnahme als die Regel sein.

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