Am Wochenende sorgte Sandhausens Präsident Jürgen Machmeier für einen Skandal, weil er einen Schiedsrichter und dessen Assistenten tätlich angegriffen haben soll. Gewalt im Fußball ist nicht nur deshalb ein wichtiges und dringendes Thema. Thaya Vester ist Kriminologin und beschäftigt sich intensiv mit Gewalt und Diskriminierung im Fußball. Wir haben uns mit ihr über die Gründe für die Gewalt, vor allem gegen Referees, aber auch die möglichen und nötigen Maßnahmen unterhalten.
Frau Vester, wie kaputt ist der deutsche Amateur-Fußball?
Thaya Vester: Darauf gibt es nicht die eine einfache Antwort. Gegenfrage: Können wir überhaupt erwarten, dass der Amateur-Fußball komplett reibungslos funktioniert? Eine gewisse Anzahl an Vorfällen werden wir immer haben, egal wie stark wir uns bemühen, weil Menschen aufeinandertreffen und es dann Konflikte gibt. Aber wir haben durchaus einen großen Einfluss darauf, wie stark solche Konflikte eskalieren. Wir sollten durch verschiedene Strukturmechanismen verhindern können, dass es zu Ausschreitungen oder Abbrüchen kommt, doch es passiert leider zu oft.
Trotzdem muss man in Sachen Gewalt sagen: Es ist Gott sei Dank im Fußball nach wie vor statistisch gesehen die Ausnahme. Wir haben in 0,3 Prozent aller Spiele eine Meldung über Gewalthandlungen. Was nicht viel ist, aber durch die weite Verbreitung des Fußballs sind es dann doch mehrere Tausend betroffene Personen pro Saison. Auch wenn die Vorkommnisse statistisch gesehen selten sind, sind es schlimme Ereignisse. Was eine abschließende Bewertung erschwert, sind die Dunkelziffern, die Fälle, die gar nicht gemeldet werden, oder Vorkommnisse wie Unhöflichkeiten, Unsportlichkeiten, Respektlosigkeiten. Wir befinden uns im Moment in der Situation, dass längst nicht alles, was passiert, geahndet wird. Der Fußball ist nicht kaputt, aber an einigen Stellen ziemlich ramponiert und nicht so schön, wie er sein könnte.
Sie haben in Ihrer Rolle als Kriminologin für eine Studie fast 1.000 Spielabbrüche analysiert. Wie schlimm ist ein Abbruch?
Das ist der Worst Case, der eigentlich nicht passieren darf. Und die Schiedsrichter sind sogar angehalten, wirklich alle verfügbaren Mittel auszuschöpfen, um das Spiel fortzusetzen. Auch in den unteren Klassen gilt der aus dem Profi-Fußball bekannte Drei-Stufen-Plan. Der größte Konfliktursprung ist mit knapp einem Drittel die Unzufriedenheit mit dem Schiedsrichter. Das heißt, dass ihm eine Fehlentscheidung oder Parteilichkeit vorgeworfen wird. Und der Schiedsrichter erst verbal und dann häufig im weiteren Fortgang auch körperlich angegriffen wird.
Warum fehlt der Respekt vor dem Schiedsrichter und vor dessen Entscheidungen?
Das ist fast der Schlüssel zu allem. Weil es sich so entwickelt hat. Das Absurde: Wir brauchen keine neuen Regeln, man muss die bestehenden Regeln nur konsequent anwenden. Ich kann heute quasi jedes Fehlverhalten als Unsportlichkeit bestrafen, aber es wird nicht gemacht. Es hat sich eingebürgert, dass sehr viel toleriert wird, und das ist ein langsamer und sehr schleichender Prozess, was fatal ist. Und da kommen wir gerade nicht raus, denn entweder bräuchte man sozusagen einen Tag X, an dem man den Cut macht und sehr einschneidende Maßnahmen einführt und umsetzt. Das geht aber nicht von heute auf morgen, weshalb andererseits auch ein ganz großes Umdenken stattfinden müsste.
Inwieweit stimmt es denn, dass der Fußball auch ein Spiegelbild der Gesellschaft ist?
Das stimmt in gewisser Weise, aber auch wieder gar nicht. Der Fußball ist nach wie vor die beliebteste, die größte Sportart. Da geht ein Großteil der Gesellschaft hin. Von daher ist er natürlich auch ein Teil der gesellschaftlichen Entwicklung. Und wir sehen Dinge im Fußball, die wir auch sonst in der Gesellschaft sehen. Wir sehen es vielleicht sogar noch deutlicher, weil Fußball niederschwellig ist. Gesamtgesellschaftlich erleben wir einen Anstieg von Gewalttaten. Und die sehen wir auch im Fußball, aber wir sehen sie ja trotzdem nicht überall in der Gesellschaft. Und dann ist eben die Frage: Warum lässt der Fußball bestimmte Dinge zu und setzt nicht genug entgegen?
Geht es denn heutzutage auf dem Fußballplatz insgesamt deutlich verrohter zu? Oder täuscht der Eindruck?
Das ist extrem schwer zu messen, weil bestimmte Statistiken früher schlichtweg nicht geführt wurden. Und auf der anderen Seite ist es so, dass wir bei bestimmten Dingen jetzt genauer hinschauen. Es ist in dem Zusammenhang schwer zu sagen, ob wir vielleicht in manchen Bereichen sensibler geworden sind oder mehr Bereitschaft haben, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und es gibt Handyaufnahmen, die das alles noch einmal viel drastischer wirken lassen als eine einfache Schlagzeile. Es gab auch in den 1990er-Jahren Massenschlägereien. Das hat damals dann aber oft nur die Lokalzeitung mitbekommen. Das soll nicht heißen, dass es gerade nicht schlimmer wird, aber es ist nicht nur so. Es ist eher umgekehrt: Früher war nicht alles besser. Aber um das genau beziffern zu können, fehlen uns noch schlichtweg die Daten.
Wie sehen denn die aktuellen Zahlen aus?
Das aktuelle Lagebild hat mehrere Unschärfen, aber trotzdem kann man ein paar Dinge ablesen. Da wir durch die Corona-Pandemie eine Art Loch haben, müssen wir die Saisons vor Corona und danach miteinander vergleichen. In der ersten Saison "nach Corona" 2021/22 hatten wir einen signifikanten Anstieg bei den Spielabbrüchen. Und das war kein Ausrutscher, denn wir haben jetzt bei den jüngsten Zahlen der Saison 2022/23 gesehen, dass diese genauso hoch sind. Wir haben also tatsächlich ein neues Niveau an Spielabbrüchen, die hocheskalierten Konflikte nehmen zu. Insgesamt ist also eine Tendenz erkennbar, aber für eine komplette Betrachtung müsste man sich die Sportgerichtsurteile anschauen. Und da haben wir das große zusätzliche Problem, dass es bei 21 Landesverbänden 19 verschiedene Rechts- und Verfahrensordnungen gibt, die sich nicht stark, aber graduell unterscheiden.
Was sind die Gründe dafür, dass es nach Corona angestiegen ist und vor allem auf hohem Niveau verbleibt?
Das ist tatsächlich eine schwere Frage. Ich glaube, dass es sicherlich etwas damit zu tun hat, dass noch mal ein ganz anderer Druck auf vielen Menschen lastet und viele angespannter sind. Aber diese Kausalität wirklich seriös liefern und belegen kann niemand.
Gibt es bei den untersuchten Fällen denn Kausalitäten wie regionale Unterschiede, sportliche Situationen oder Stadt und Land?
Es gibt bestimmte Auffälligkeiten. Wir haben den Gipfel an Gewalttaten immer im Spätherbst. Das veränderte Wetter wird sicherlich einen Effekt haben. Aber es wird auch viel mit enttäuschten Erwartungen zu tun haben. Ich kann mir am Anfang der Saison bestimmte Dinge noch schönreden, das geht irgendwann nicht mehr. Dann entlädt sich der Frust. Zu der Zeit werden auch Trainer entlassen. Wir sehen größere Probleme im städtischen Bereich als im ländlichen Bereich. Darüber kann man auch diskutieren. Woran liegt das? Ist es die Anonymität der Großstadt oder ist es die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung? Das sind extrem viele Faktoren.
Ich sehe zum Beispiel auch eine besondere Auffälligkeit von Einwechsel- oder Auswechselspielern, die andere Muster aufzeigen als jemand, der von Anfang an spielt. Man sieht zum Beispiel auch Gewalt, obwohl es professioneller zugeht. Aber eben mehr, je unprofessioneller es wird. Es ist aber nie so eindeutig schwarz-weiß, dass man sagen kann: "Daran liegt es!" Denn es kommt immer auch darauf an, wie die zur Verfügung stehenden Maßnahmen angewendet und umgesetzt werden. Es ist unglaublich komplex.
Ist für viele Beteiligte der rohe Umgang vielleicht auch "normal" geworden?
Ja, durchaus. In einem Fall vor dem Sportgericht haben zwei Angeklagte zu ihrer Verteidigung angeführt, so gehe man nun mal im Fußball miteinander um. Das Argument wird öfter genannt. So wird versucht, die Gewalt zu rechtfertigen. Schiedsrichter bekommen, wenn sie sich beschweren, häufig gesagt: "Na ja, aber ihr habt doch gewusst, worauf ihr euch einlasst. Fußball ist halt so." Und ich muss wirklich sagen: Mich hat der Angriff des Präsidenten vom SV Sandhausen schockiert, das ist nochmal eine neue Dimension.
Jürgen Machmeier soll Schiedsrichter Florian Exner und dessen Assistenten körperlich angegriffen haben …
Wenn das wirklich so passiert ist - das geht einfach nicht. Wir haben die neuen Rekordzahlen an Spielabbrüchen. Wir haben den gewaltsamen Tod des 15-jährigen Paul und so viel negative Neuigkeiten in diesem Jahr, dass gefühlt die letzten Grenzen überschritten werden.
Wie fatal sind diese Negativ-Beispiele wie jetzt aus der 3. Liga und was sollten die Konsequenzen sein?
Das ist ein fatales Signal. Da bin sogar ich sprachlos. Wenn es wirklich so passiert ist und der Präsident nicht zurücktritt, müsste man den Strafrahmen komplett ausschöpfen. Sollte er komplett zu Kreuze kriechen, müsste er neben einer Geldstrafe oder Sperre einen Schiedsrichter-Schein machen und jede Woche ein Spiel pfeifen. Um sich mal anzuschauen, wie es so ist als Schiedsrichter. Wenn wir diesen Perspektivwechsel grundsätzlich hinbekommen, wäre das eigentlich das allerbeste Mittel. Nicht nur als Strafe, sondern präventiv für alle. Angefangen bei den Bundesliga-Profis, die alle ein Spiel pfeifen und sich dann noch mal genauer überlegen sollten, über was man sich zu Recht beschwert und über was zu Unrecht.
Müssen generell härtere Strafen her?
Die Bandbreite an Sanktionsmöglichkeiten ist durch die verschiedenen Rechts- und Verfahrensordnungen auf Landesebene extrem groß. Da muss man sicherlich darüber nachdenken, was man alles vereinheitlichen kann. Ganz generell ist es aber vor allem eine Sache der praktischen Anwendung. Die Strafen müssen konsequenter angewendet werden. Oft müssen sie überhaupt mal angewendet werden, denn bisher gibt es in vielen Fällen schlicht keine Strafe, vor allem nicht bei verbaler Gewalt. Hier ist zudem der Unterschied zwischen Spielern und Zuschauern zu beachten. Spieler können viel leichter von der Sportgerichtsbarkeit belangt werden als Zuschauer. Das darf aber nicht zu einem Freibrief für Zuschauer führen. Das Risiko, erwischt zu werden, muss für alle größer sein als die Chance, damit davonzukommen. Denn nur dann lassen die Leute es sein. Und die Konsequenz muss spürbar sein.
Dabei war die Gewaltprävention ja schon vor Corona ein großes Thema. Es wurden einige Maßnahmen angekündigt. Ist das auf der Strecke geblieben?
Es ist nicht auf der Strecke geblieben und wir sind auch weiter als damals, aber während Corona wurde das Thema nicht so konsequent weiterbearbeitet, wie es hätte sein können oder sein sollen. Man kann das streckenweise nachvollziehen, weil man ganz andere Sorgen und Probleme hatte. Im Spätherbst 2019 führten wir die Gewaltdiskussion in einem enormen Ausmaß. Da haben sich die Innenminister damit beschäftigt, die Sportminister. In den Medien lief es rauf und runter. Und da hatte ich gedacht, dass wir aufgerüttelt wurden und uns dem Thema intensiv widmen. Corona hat die ganze Problematik aber ein bisschen verschleiert und der Diskussion den Wind aus den Segeln genommen. Jetzt sind wir wieder an dem Punkt, dass über Grundlegendes gesprochen werden muss und wir nicht so weit sind, dass wir das Problem wirklich gut bekämpfen können.
Wer ist in erster Linie gefordert, dass sich etwas tut und verbessert?
Es wird deutlich mehr getan als noch vor zehn Jahren. Alle Landesverbände haben inzwischen Anlaufstellen für Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle. Es wird auch deutlich mehr hingeschaut. Aber trotz allem reichen diese Bemühungen nicht aus, dass der Sport das, was er so gerne propagiert, auch tatsächlich ist oder sein könnte. Man muss bereit sein, ein bisschen mehr die Augen aufzumachen und sich dem Problem stellen. Dem Problem wird sich nicht intensiv genug gewidmet, so wie es nötig wäre, wenn wir nicht nur an den Symptomen herumdoktern möchten.
Grundsätzlich sind alle gefordert. Da gibt es nicht den einen Akteur, der sich rausnehmen und sagen kann, dass er damit nichts zu tun hat. Aber das ist genau der Punkt: Natürlich ist auch der einzelne Schiedsrichter gefordert, Vorfälle zu melden. Aber im Kern sehe ich die größere Verantwortung bei denjenigen, die auch in der Position sind, tatsächlich was zu ändern. Und das wäre der DFB als Dachverband. Und natürlich auch die Politik, wenn sie es sich nicht leicht macht und sagt, der Sport sei autonom organisiert. Dann sollte man aber auch nicht mit Bestürzung reagieren, wenn dann doch wieder etwas passiert.
Wie bei Paul zum Beispiel, das ist ja noch gar nicht lange her. Da waren auch alle Politiker bestürzt. Aber passiert dann auch tatsächlich etwas?
Es ist nicht so, dass nichts passiert und ich weiß auch, dass der DFB sich in verschiedenen Arbeitsgruppen durchaus mit dem Thema auseinandersetzt. Aber wirkliche Konsequenzen sind nach außen hin noch nicht sichtbar.
Wie problematisch ist es denn im Jugendbereich?
Wir sehen zunehmend Probleme im Jugendbereich, aber auch da vor allem in den niedrigen Klassen, wo früher wenig bis nichts los war. Es gibt inzwischen auch schlimme Meldungen aus der F-Jugend. Aber es sind nicht die Kinder selbst, die die Probleme verursachen, sondern in dem Bereich vorrangig auch die Erwachsenen, entweder die Trainer oder Eltern. Im Fall von Paul ging es um eine C-Jugend. Aber auch hier ist es nicht die Jugend als solche, die verroht oder schlimmer ist, sondern eher ein Ausdruck davon, dass das Gesamtgefüge mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat.
Über die Gesprächspartnerin:
- Dr. Thaya Vester ist akademische Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen. Außerdem ist sie Mitglied der DFB-Projektgruppe "Gegen Gewalt gegen Schiedsrichter*innen" sowie der DFB-Expert*innengruppe "Fair Play – gegen Gewalt und Diskriminierung".
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.