Die Fußball-Europameisterin Lucy Bronze gibt in England ein denkwürdiges Interview, in dem sie ihren Autismus öffentlich macht. Eines der letzten Tabuthemen im Profisport – dabei sind viele Profis betroffen.
Lucy Bronze trägt Edelmetall nicht nur in ihrem Namen, sondern auch in ihrer Vita. 2019 wurde sie Europas Fußballerin des Jahres, 2022 Europameisterin mit England, ganz nebenbei holte sie noch 22 Titel auf Vereinsebene. Die 33-Jährige ist der personifizierte Erfolg.
Selbst im Fußball der Frauen ist Autismus-Bekenntnis ein Tabubruch
Seit dieser Woche ist Bronze aber auch: offen autistisch. Es ist ein Coming-out der anderen Art im Fußball der Frauen, der längst für Inklusion und Diversität bekannt ist. Nun hat die Rechtsverteidigerin des FC Chelsea womöglich den nächsten Tabubruch eingeleitet, in dem sie sich zu einer neurologischen Entwicklungsstörung bekennt, die immer mehr Menschen betrifft.
"Es war etwas, das ich irgendwie immer wusste", sagt Bronze im Gespräch mit der BBC anlässlich Englands Neurodiversity Celebration Week. Ihre Mutter habe schon früh den Verdacht geäußert, dass Lucy autistisch sein könnte.
Erst mit Ende 20 erhielt sie jedoch die offizielle Diagnose und die Gewissheit, dass sie Autismus und ADHS hat. "Ich habe einfach mehr über mich selbst gelernt, verstanden, warum ich in bestimmten Situationen anders reagiere oder Dinge anders sehe als andere."
Vorher habe Bronze krampfhaft probiert, ihre Eigenheiten zu verstecken – etwa, wenn sie bei der Nationalmannschaft war, wo sie im sozialen Umgang die ehemalige England-Kapitänin Jill Scott kopierte, um nicht aufzufallen. Ein typisches Verhalten, was Wissenschaftler "maskieren" nennen – und was bei betroffenen Menschen oft fatale Auswirkungen auf die mentale Gesundheit haben kann.
"Du hast mir noch nie in die Augen geschaut, wenn du mit mir sprichst."
Eine ehemalige Mitspielerin im Gespräch mit Lucy Bronze
Ein Schüsselmoment war für Bronze, als ihre ehemalige Mitspielerin Casey Stoney sie darauf ansprach: "Du hast mir noch nie in die Augen geschaut, wenn du mit mir sprichst." Bronze antwortete ihr: "Es liegt nicht an dir, es liegt an mir." Die Szene beschreibt exemplarisch, wie alltägliche soziale Situationen für autistische Menschen zu Herausforderungen werden können.
Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich auf Kommunikation, soziale Interaktion und Wahrnehmung auswirkt. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist etwa eines von 100 Kindern weltweit autistisch. Die Tendenz zu Diagnosen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, was sowohl auf bessere Diagnostik als auch auf ein wachsendes Bewusstsein zurückgeführt wird.

Bei Bronze äußerte sich die Diagnose etwa darin, dass sie Blickkontakt meidet und Routinen zur Beruhigung entwickelt hat. "Viele Leute denken, ich spiele während des Spiels mit meinen Haaren, weil ich abgelenkt bin. Aber das ist einfach meine Art, mich zu beruhigen – oft ohne es zu merken."
"Ich musste lernen, Menschen zu umarmen und ihnen in die Augen zu schauen, weil das als normal gilt."
Lucy Bronze
Im Profisport ist Autismus nach wie vor ein Tabuthema. Nur wenige Athletinnen und Athleten bekennen sich offen dazu. Der Druck, sich anzupassen, ist groß. Bronze beschreibt, wie sie während ihrer Zwanziger das Verhalten anderer kopierte, um sich anzupassen. "Ich musste lernen, Menschen zu umarmen und ihnen in die Augen zu schauen, weil das als normal gilt. Aber es war für mich sehr schwierig."
Dabei kann Autismus auch Vorteile mit sich bringen. Bronze berichtet von ihrer überdurchschnittlichen Fokussierung: "Ich bin nicht nur leidenschaftlich über Fußball, ich bin besessen davon. Das ist mein Autismus, meine Hyperfokussierung."
Ihr sportlicher Erfolg gibt ihr Recht: Bronze begann mit 16 Jahren im Seniorenbereich und spielt mit 33 immer noch auf höchstem Niveau. "Training jeden Tag ist großartig für mich. Bewegung hilft mir sehr – das ist etwas, das für viele Autisten und ADHS-Betroffene gilt."

Mit ihrer Diagnose nach außen zu treten, ist Bronze wichtig: "Eine Diagnose ändert nicht, wer du bist, aber sie hilft dir, dich selbst besser zu verstehen." Als die Fußballerin erfuhr, dass sie selber autistisch ist, sei dies wie eine Befreiung gewesen.
"Mich hinzusetzen und über meine Eigenschaften zu sprechen und darüber, wie sie sich auf mich auswirken, über Situationen, in denen ich mich gut oder schlecht fühle ... da hat es in meinem Kopf 'klick' gemacht", sagte sie im BBC-Interview. "Ich hatte immer das Gefühl, dass meine Unterschiede wie meine Superkräfte sind. Wie ich Dinge verarbeite, super-fokussiert bin."
Studie: 60 Prozent der betroffenen Fußballer meiden Gespräch mit Verein
Auch in Deutschland ist das Thema bislang kaum sichtbar im Profisport. Dabei zeigen erste Studien, dass Neurodiversität in der Fußballwelt weiter verbreitet ist, als angenommen.
Die britische Fußballprofi-Gewerkschaft "Professional Footballers' Association" (PFA) hat in einer laufenden Untersuchung rund 700 ihrer Mitglieder befragt. Erste Ergebnisse zeigen: Zwar haben nur fünf Prozent eine formelle Autismus-Diagnose, aber etwa ein Viertel berichtet von neurodivergenten Merkmalen wie Aufmerksamkeitsstörungen (26 Prozent) oder sozialen Schwierigkeiten (22 Prozent).
Besonders bemerkenswert: 60 Prozent der befragten Fußballprofis mit neurodivergenten Merkmalen haben laut der PFA-Studie bislang nicht mit ihren Vereinen über ihre Diagnose gesprochen. Dies verdeutlicht die anhaltende Angst vor Stigmatisierung und beruflichen Nachteilen.
"Ich weiß genau, wie es ist, wenn man aus einem Klub fliegt, weil man angeblich zu streitlustig oder schwierig ist."
Die walisische Nationalspielerin Safia Middleton-Patel über ihren Autismus
Ein Beispiel ist die walisische Nationaltorhüterin Safia Middleton-Patel, die mit 18 Jahren nach ihrem Wechsel zu Manchester United ihre Autismus-Diagnose erhielt. Der BBC sagte die 20-Jährige: "Ich weiß genau, wie es ist, wenn man aus einem Klub fliegt, weil man angeblich zu streitlustig oder schwierig ist. Ich bin nicht kompliziert, ich bin einfach anders." Heute erfährt sie bei United viel Verständnis: "Wenn sie etwas nicht verstehen, nehmen sie sich Zeit für ein Gespräch."
Premier-League-Profi mit Autismus: Diagnose erst nach Karriereende
Auch Männer aus dem Profifußball haben sich in den letzten Jahren zu ihrer spät erkannten Neurodivergenz geäußert. Der irische Nationalspieler James McClean sprach öffentlich über seine Autismus-Diagnose, die er sich einholte, nachdem seine Tochter Willow-Ivy diagnostiziert worden war. "Ich wollte ihr zeigen, dass ich sie verstehe und dass Autismus sie nicht aufhalten muss", so McClean, der mittlerweile für Ryan Reynolds Klub AFC Wrexham spielt.
Ein ähnliches Motiv hatte der frühere Premier-League-Spieler Greg Halford. Nach der Diagnose seines Sohnes stellte auch er Ähnlichkeiten fest und ließ sich testen. "Ich habe mich immer für anders gehalten. Die Diagnose hat mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen und meinem Sohn eine Stütze zu sein."
Trotz dieser Fortschritte bleibt das Stigma groß. Bronze hofft, dass ihr Beispiel andere ermutigt: "Ich hatte Zeiten, in denen es einfacher gewesen wäre, wenn es weniger Stigmatisierung gegeben hätte. Deshalb engagiere ich mich jetzt für Aufklärung."
Bronze ist inzwischen Botschafterin der National Autistic Society in Großbritannien. Ihr Ziel: mehr Sensibilität und Akzeptanz für die Vielfalt menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation – auch im Leistungssport.
Für Bronze ist Fußball nicht nur ein Beruf, sondern eine Struktur, die ihr hilft: "Viele fragen, was ich mache, wenn ich mal nicht mehr spiele. Aber ich finde bestimmt etwas Neues. Ich bin nicht nur vom Spielen besessen, sondern vom ganzen Sport: Taktik, Medizin, Management."
Verwendete Quellen:
- BBC: Having autism has worked to my advantage in football - Bronze
- Her Football Hub: Why Lucy Bronze revealing her neurodivergent diagnosis is so important
- Instagram-Post von BBC Sport: "My autism is my superpower"
- Professional Footballers' Association (Englands Profi-Fußballer-Gewerkschaft): PFA launches research project to explore neurodiversity among professional footballers
- BBC: PFA survey reveals number of neurodivergent players
- The i Paper: I'm an autistic ex-Premier League player - football never tried to understand me
- CNN: Inspired by his daughter after her autism diagnosis, soccer star James McClean reveals he too is autistic