- Robin Gosens verzaubert bei der Fußball-EM 2021 die Fans der deutschen Nationalmannschaft.
- Doch er hat bereits einen ziemlich spannenden Werdegang hinter sich.
- Die Geschichte einer etwas anderen Fußball-Karriere.
Deutschland hat wieder einen Fußball-Gott. Einen echten Typen, den die Fans der deutschen Nationalmannschaft greifen können, den Charakterkopf, nach dem sich viele Anhänger gesehnt haben. Viel wurde in den letzten Jahren rund um das DFB-Team darüber diskutiert, wie nahe die Profis an den Kreisliga-Kickern noch dran sind.
Klares Indiz für einen Emotionsverlust waren vor der Corona-Krise halbleere Stadien bei Länderspielen und schwindende TV-Quoten. Doch dann kam:
Jugendakademien kennt er nur vom Hörensagen
Nachwuchsleistungszentren, Jugendinternate und Akademien - all das kennt der heute 26-Jährige nur vom Hörensagen. Sein Werdegang war ein gänzlich anderer. Er erzählt davon ohne Umschweife. Etwa, wie er als 18-jähriger Spieler des VfL Rhede jedes Wochenende zwischen der Dorfdisco "Blues" und dem Fußballplatz pendelte.
"Wir sind nach zwei, drei Stündchen Schlaf mit 1,5 Promille aufgestanden, haben uns in den Bus gesetzt und sind zum Auswärtsspiel gefahren", erzählte Gosens einmal "DAZN". "Es war eine der Nächte, in denen wir mehr oder weniger direkt aus dem ‚Blues‘ zum Treffpunkt gestolpert sind", sagte er ein anderes Mal "11Freunde".
"Freitag raus, Samstag raus, die Nächte durchzelebriert", sagte er weiter: "Zu der Zeit trillerten wir immer den gleichen Song: ‚Kama Ahava‘. Ich weiß gar nicht, von wem der ist, aber der Text geht nur so: ‚Kama, Kama Ahava!‘ Der letzte Schwachsinn, aber wir haben dieses Lied übertrieben gefeiert. Irgendwann fuhren wir dann alle zusammen mit den Fahrrädern zum Blues. Wunderbare Nächte."
Dorfdisco statt Borussia Dortmund
Es sind Sätze, wie man sie von Profi-Fußballern heute kaum noch hört. Gosens‘ Karriere stand wohl auch wegen ausschweifender Nächte lange auf der Kippe. Zum Beispiel dem BVB war er als Teenager nicht gut genug.
"Ich bin damals mit meinem Vater dorthin gefahren und habe eine Einheit absolviert. Aber nicht wirklich mit denen zusammen", erzählte er der "ARD" von einem Probetraining als A-Jugendlicher bei Borussia Dortmund: "Ich war nicht im Ansatz bereit dafür, was da abging. Die haben irgendwelche Koordinationsleitern durchlaufen, die ich bis dato noch nie in meinem Leben gesehen hatte. In Rhede hatten wir immer nur ein Eck aufgemacht, ein bisschen Torschuss und dann Abschlussspiel."
Vitesse Arnheim holte ihn dennoch. Sein Vater, ein Niederländer, hatte Kontakte. Für den Durchbruch reichten die zunächst allerdings nicht: Wieder genügte Gosens den Ansprüchen nicht, wurde zu Heracles Almelo geschickt. In der Kleinstadt nahe der deutschen Grenze zahlte sich sein fußballerisches Talent dann endlich aus. So sehr, dass Atalanta Bergamo aus Norditalien auf ihn aufmerksam wurde. Gosens aber fühlte sich wohl bei Almelo.
Er verliebte sich in Bergamo, Atalanta verliebte sich in ihn
Als im Frühsommer 2017 das erste Angebot aus der Lombardei kam, war er gerade mit seinen Mannschaftskameraden von Heracles auf Abschlussfahrt in Mallorca - er lehnte ab. Atalanta aber ließ nicht locker.
Der Sportdirektor rief ihn einfach an. "Ein Mann sprach auf Italienisch, ich verstand kein Wort", erzählte Gosens: "Irgendwann merkte er, dass ich ihm nicht folgen konnte, also sagte er: 'I give you wife!' Und dann telefonierte ich mit der englisch sprechenden Frau von Atalantas Sportchef. Der hatte mich persönlich angerufen, weil er von meinem Berater nichts mehr gehört hatte."
Gosens flog nach Italien, um sich das letzte Meisterschaftsspiel der Bergamasken anzusehen. Er verliebte sich sofort in die Fans und die Stadt. Authentisch, kantig, echt: Atalanta und Gosens sind sich sehr ähnlich. Der Klub dümpelte lange zwischen Serie A und Serie B, zwischen erster und zweiter Liga. Aus der Stadt strömten die Menschen trotzdem schon immer ins "Stadio Atleti Azzurri d’Italia".
Mehr noch: Wenn in Bergamo und der darum liegenden Provinz ein Kind auf die Welt kommt, erhält es ein kleines Trikot von Atalanta. Wie die "Süddeutsche Zeitung" schreibt, wurden so bis Sommer 2020 allein in der Klinik Papa Giovanni XXIII. 36.000 kleine Mädchen und Jungen in Schwarz und Blau eingekleidet.
Unnachahmliches Spiel bei Fußball-EM 2021 gegen Portugal
Gosens lebt diese Identifikation. Bevor die Corona-Pandemie kam, war es sein Ritual, nach dem Training in eines der Cafés der 120.000-Einwohner-Stadt zu fahren. Er setzt sich zwischen die Bürgerinnen und Bürger, trank mit ihnen Espresso, fragte sie, wie sie das Spiel am Wochenende fanden. In Bergamo haben sie ihm für diese Bürgernähe ein überdimensionales Graffiti an einer Hauswand gewidmet. Es ist eine leidenschaftliche Liebe - die bald zu Ende gehen könnte.
Denn: Gosens ist schwer gefragt. In der vergangenen Saison schoss er in 32 Spielen in der Serie A elf Tore und bereitete sechs weitere Treffer vor - als Linksaußen. Er wurde mit Atalanta Dritter, erreichte das Achtelfinale der Champions League (Aus gegen Real Madrid) und das Finale des italienischen Pokals (1:2 gegen Juventus Turin). Und dann machte er dieses unnachahmliche Spiel bei der Fußball-EM 2021 gegen Portugal (4:2).
Zwei Vorlagen, ein Kopfballtor und dazu noch dieser artistische Treffer, der nicht gegeben wurde. Der portugiesische "Record" schrieb nach dem Spiel: "Gosens und Kimmich haben uns auf den Flügeln zerstört". Das polnische "TVP" titelte: "Drei deutsche Musketiere - Robin Gosens, Joshua Kimmich und Kai Havertz - haben Portugal auseinandergenommen." Die englische "Daily Mail" meinte, dass Gosens Portugal "in Schach gehalten" habe und der "Mirror" schrieb, dass er die "Hauptrolle" gespielt habe. So wächst das Interesse an seiner Person unaufhörlich.
Von Atalanta Bergamo zum FC Barcelona oder zu Juve?
Juve soll ihn schon länger wollen. Italienischen Medienberichten zufolge sind der FC Barcelona und beide Klubs aus Manchester in das Werben um den "super Typen" (Mats Hummels) eingestiegen.
"Wenn ich das schon höre, über 30 Millionen Euro für so einen Robin Gosens, dann wird mir wirklich schlecht", meinte Gosens kürzlich im Interview mit "Spox", und "Goal" sagte er: "Mein lieber Scholli. Da habe ich Schwierigkeiten, das zu begreifen." Er wird sich wohl daran gewöhnen müssen, der Mann, der als Teenager statt Jugendakademien vor allem eines kannte: das "Blues" in Rhede.
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