Bei der Europameisterschaft steht der Fußball im Mittelpunkt. Doch es geht längst nicht mehr nur um Tore, Siege und den Titel. Die Organisatoren wollen in Sachen Nachhaltigkeit Maßstäbe setzen und Vorreiter sein. Das ist nichts anderes als eine Mammutaufgabe. Wir haben mit dem Nachhaltigkeits-Manager des OK gesprochen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Philipp Lahm ist schuld. Denn er hat die Messlatte hochgelegt. Klar: Als Turnierdirektor muss man schon mal einen raushauen, wenn es um Ambitionen und Ziele geht. Doch herauszugeben, dass die EM in Deutschland "die nachhaltigste aller Zeiten" werden soll, ist mal eine Ansage des früheren Nationalspielers. Doch natürlich erreicht man hohe Ziele oft auch nur dann, wenn man sie sich auch setzt. Und wenn es um Themen wie Umwelt, Rassismus oder Menschenrechte geht, kann man sowieso nie genug tun.

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Schlaflose Nächte hatte Tim Thormann wegen Lahm aber nicht. Der Nachhaltigkeits-Manager der Euro 2024 GmbH, dem Joint Venture des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und der Europäischen Fußball-Union (Uefa) zur Organisation der EM, hatte mit seinem Team zwar eine Mammutaufgabe zu bewältigen. "Die Messlatte wurde von Philipp Lahm auf jeden Fall hochgelegt", sagte Thormann im Gespräch mit unserer Redaktion. "Aber man muss den Zeiten, die sich verändert haben, Rechnung tragen, denn auch der gesellschaftliche Diskurs ist deutlich weiter als früher."

Nachhaltigkeit basiert auf drei Säulen

Nachhaltigkeit – was viele Menschen mit Umweltschutz gleichsetzen – ist deutlich komplexer und vielschichtiger. Denn das Thema Nachhaltigkeit besteht bei der EM aus drei Säulen. Zum einen ist es die Umweltdimension, aber auch die soziale und die Governance-Komponente.

"Bei der sozialen Komponente ist vor allem das Thema Menschenrechte sehr wichtig und gerade in Deutschland sehr, sehr präsent. Daneben gibt es aber auch das Thema Barrierefreiheit oder aber den Schutz der Menschen vor Diskriminierung und Rassismus. Diese Themen begleiten den Fußball schon sehr lange und werden vielleicht auch deshalb manchmal nicht direkt zum Nachhaltigkeitsbereich gezählt", sagt Thormann.

Weil die Uefa Nachhaltigkeit zur Bedingung für die EM-Bewerbung gemacht hat, gibt es das Konzept seit 2018, in den vergangenen Jahren wurde die Strategie dauerhaft überarbeitet. In der Zeit verschoben sich mit den Veränderungen rund um Umwelt und Co. aber auch die Ziele. Klimaneutral will man nicht mehr sein, "wir sagen, dass wir Klimaverantwortung übernehmen. Das bedeutet, dass wir anerkennen, dass Emissionen ausgestoßen werden. Aber auch, dass wir Maßnahmen ergreifen, um diese Emissionen langfristig einzusparen", so Thormann.

Klimafonds für deutsche Amateur-Vereine

Deshalb wurde zum Beispiel ein sogenannter Klimafonds ins Leben gerufen. Deutsche Amateur-Vereine können sich bis zum 30. Juni auf das Geld aus dem Fonds, insgesamt sind es rund sieben Millionen Euro, für Förderprojekte in den vier Kategorien Energie, Wasser, Abfallwirtschaft und Mobilität bewerben.

"Und wir sehen durch die Interaktion mit den Vereinen, wie das Geld genutzt wird", sagt Thormann. "Dass zum Beispiel bei einem 300-Personen-Verein im Saarland eine Solaranlage auf dem Vereinsdach steht, was auch einen positiven Effekt für den Verein hat, weil er langfristig Kosten spart, aber auch, weil er seine Mitglieder motiviert hat, sich im Verein zu engagieren."

Der Fonds steht als Ausgleich für die unvermeidbaren Treibhausgasemissionen, doch natürlich will man mit diversen Maßnahmen selbst Emissionen reduzieren, 100 sind es insgesamt. Der herausforderndste Bereich ist die Mobilität, denn rund 70 Prozent der CO2-Emissionen entstehen bei Großveranstaltungen durch die An- und Abreise der Stadionbesucher.

Alternative Angebote für Fußballfans

Der Ansatz: Alternative Angebote für die Zuschauer schaffen. Zum einen gibt es das Fernverkehrsticket der Deutschen Bahn, mit dem Fans vergünstigt fahren können. Mit einem Ticket kostet eine Bahnfahrt in der zweiten Klasse 29,90 Euro pro Strecke, mit der Eintrittskarte kann man zudem 36 Stunden lang kostenlos den ÖPNV nutzen. Und auch das Interrail-Ticket ist vergünstigt.

"Die Entscheidung, das Angebot zu nutzen, können wir aber niemandem abnehmen", weiß Thormann. Das sei die Herausforderung. "Wir können viele Angebote schaffen und viele Maßnahmen ergreifen. Aber ob sie dann am Ende angenommen werden, hängt am Ende von den Menschen ab. Aber wir haben Anreize geschaffen, in Deutschland umweltfreundlich zu reisen. Und in Deutschland hat man generell eine gute Möglichkeit, von A nach B zu kommen, ohne sich in einen Flieger zu setzen."

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Oder ins Auto. Dachten sich auch die Organisatoren. Deshalb gibt es an den Stadien in Berlin, Frankfurt, Hamburg und Leipzig keine öffentlichen Parkplätze. An den anderen Spielorten müssen die Plätze vorab gebucht werden – für 24 Euro. Das ist teilweise der dreifache Preis, der an Bundesliga-Spieltagen verlangt wird.

Mit Absicht, damit zum einen die Anreise mit dem Auto möglichst unattraktiv ist. Ein Teil des Geldes fließt zudem in den Klimafonds. "Damit diese Menschen ihre Anreise in gewisser Weise kompensieren und damit auch Klimaverantwortung übernehmen", so Thormann.

Nationalteams sind Vorbilder

Daneben sollen aber auch die hochbezahlten Nationalspieler Vorbilder sein, "weil alle sich darauf fokussieren, ob die deutsche Mannschaft mit dem Zug, mit dem Flieger oder mit dem Bus fährt. Und das entscheidet am Ende, wie nachhaltig wir werden", so Thormann. Um gemütliche Vielfliegerei zu vermeiden, wurden sogenannte Cluster beim Spielplan gebildet.

Die deutsche Nationalmannschaft bestreitet ihre Vorrundenspiele zum Beispiel in Frankfurt, Stuttgart und München. "Man kann jetzt schon sagen, dass die Flugreisen in der Vorrunde im Vergleich zu 2016 um 75 Prozent reduziert wurden. Um nur ein Beispiel zu nennen. Man sieht dadurch, dass solche Aktivitäten einen großen Effekt haben können", so Thormann.

Auch die Gastgeberstädte sind in das Nachhaltigkeits-Konzept mit eingebunden und haben das erste Mal in bestimmten Bereichen Nachhaltigkeitskriterien entwickelt, die in der Stadt zum Standard werden und über die EM hinaus Bestand haben sollen. Der Anteil der Städte am Gesamterfolg des Turniers und damit auch beim Thema Nachhaltigkeit ist groß, denn die Organisatoren erwarten in den Fanzones rund zwölf Millionen Fans. Zum Vergleich: In den Stadien sind es ungefähr 2,7 Millionen Menschen.

Ein nachhaltiges Stadionerlebnis

Man muss dazu sagen: Ein gutes Stück des Feldes war für die Organisatoren bereits bestellt. Die Stadien sind vorhanden, die Infrastruktur ebenfalls, außerdem wird in einem Land gespielt. Was erwartet die Fans in den Stadien? Bekannte Dinge wie Mehrwegbecher und ein breites Angebot an veganen und vegetarischen Speisen, aber unter anderem genderneutrale Toiletten, ein stadionübergreifendes Schutzkonzept "mit Safe Space" und ein Beschwerdemechanismus für Menschenrechtsverletzungen.

Die Servicequalität generell soll noch mal deutlich erhöht werden, auch für Menschen mit Behinderung. "Es ist nicht so, dass einem Besucher das Thema Nachhaltigkeit direkt ins Gesicht gehalten wird, wenn man ins Stadion kommt. Es sind vielmehr Kleinigkeiten, die gar nicht sofort auffallen", sagte Thormann.

Trotzdem stellt sich die Frage: Wie nachhaltig wollen Fußballfans sein? Und wo man Nachhaltigkeit schnell mit Umweltschutz gleichsetzt, ist der EM-Fan schnell der Anhänger aus der Kurve. Doch das Publikum bei der EM ist ein anderes, ein breiteres mit einem anderen Anspruch. Und Nachhaltigkeits-Muffel sind "normale" Fans, also regelmäßige Stadiongänger, offenbar auch nicht. Eine Umfrage der EM-Organisatoren Ende 2023 ergab: Knapp 80 Prozent der befragten Fans gaben an, dass Nachhaltigkeit für sie wichtig oder eher wichtig ist. "Nachhaltigkeit hat also einen sehr hohen Stellenwert unter den Fans", so Thormann.

Daneben können der Fußball im Allgemeinen und Großveranstaltungen wie die EM im Speziellen Themen wie Nachhaltigkeit, Klimafreundlichkeit, aber auch soziale Themen wie Barrierefreiheit schlicht nicht mehr ausklammern oder vernachlässigen. "Sie müssen sie in ihre Prozesse integrieren. Sportorganisationen sind in der Hinsicht ein Teil der Gesellschaft. Ich glaube, dass die Vorbildfunktionen rund um die EM langfristig positive Effekte haben", sagt Thormann.

Welche Ziele wurden gesetzt?

Doch wie sollen diese Effekte beim anstehenden Turnier aussehen? Um eine Messlatte zu haben, hatte das Öko-Institut im Auftrag des Bundesumweltministeriums eine Ex-ante-Studie durchgeführt, in der man auf 490.000 Tonnen CO2-Emissionen, die während des Turniers ausgestoßen werden, gekommen ist. Abzüglich der Fanzone-Emissionen und der Übernachtungen bleiben etwa 390.000 Tonnen CO2-Emissionen, für die die Turnier-Organisatoren die Verantwortung übernehmen wollen. Unter dem Strich will man "rund 20 bis 25 Prozent unter der Prognose" landen, sagte Thormann.

Und er gibt zu: "Nachhaltiger geht es immer." Aber Nachhaltigkeit sei eben ein Prozess, betonte er: "Vielen Stakeholdern kann es gar nicht schnell genug gehen. Das ist eine Kritik, mit der wir uns befassen, die wir auch definitiv annehmen. Trotzdem haben wir vernünftige Prozesse in Gang gesetzt." Man wolle nicht irgendwelche Richtlinien erfüllen, nur um Richtlinien erfüllt zu haben, so Thormann: "Wir peilen eine langfristige Weiterentwicklung über die Euro hinaus an". Sollte das tatsächlich gelingen, wäre es sogar fast schon egal, ob die kommende EM die nachhaltigste aller Zeiten wird.

Über den Gesprächspartner

  • Tim Thormann ist Sustainability Manager bei der Euro 2024 GmbH, dem Joint Venture des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und der Europäischen Fußball-Union (Uefa) zur Organisation der EM.
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