Arsène Wengers Zeit beim FC Arsenal neigt sich wohl dem Ende entgegen. Fans und Medien formulieren längst die Abgesänge. Aber ist das fair? Und noch wichtiger: Können sich die Gunners den Abgang dieser prägenden Figur überhaupt leisten?

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Soll das jetzt so zu Ende gehen? Mit Bildern von 14 Jahre alten Pubertierenden, die ein paar Schildchen hochhalten? Mit vernichtenden Abrechnungen im Wochentakt? Mit "Allzeit-Tiefpunkt", "peinliches Ende", "Wenger out!"?

So sieht es derzeit offenbar aus. Arsène Wenger ist im Norden Londons nicht mehr gern gesehen, der Franzose steht beim FC Arsenal vor dem Aus. Das zweite 1:5 gegen die Bayern innerhalb von drei Wochen befeuert die Debatten um Wenger und längst ist es nicht mehr die Frage, ob Wenger demnächst gehen muss - sondern wann.

Das Emirates Stadium hat sein Votum nicht erst an diesem desaströsen Dienstagabend formuliert. Im Vorfeld des Rückspiels gegen die Bayern gab es Märsche, bei denen massiv gegen Wenger protestiert wurde. Während und nach dem Spiel wurden die "Wenger raus"-Rufe immer lauter, "enough is enough" war auf Plakaten zu lesen, "genug ist genug".

Neben den ganzen Markschreiern auf dem Boulevard veröffentlichte die "Times" das Epos in einen einzigen klugen Satz verpackt: "Die Bayern leiten das Ende einer Ära ein und es fühlt sich nach 'Fin de siecle' an". Das Ende des Jahrhunderts, das auf künstlerischer Ebene den kulturellen Verfall zum Objekt machte.

So in etwa ist das auch beim FC Arsenal. Fast 21 Jahre hat Arsène Wenger diesen Klub geleitet. Er hat Arsenal zu drei Meisterschaften und sechs FA-Cup-Triumphen geführt. Im Herbst 1996, als er vom AS Monaco nach London kam, wollten ihn die Gunners-Fans am liebsten noch am Flughafen Heathrow in den nächsten Flieger zurück nach Frankreich setzen.

Ein Wegbereiter für viele andere

Zwei Jahre später holte er als erster ausländischer Trainer überhaupt die Meisterschaft, 2004 wurde Arsenal als erste englische Mannschaft seit Preston North End vor mehr als hundert Jahren Meister, ohne auch nur ein einziges Spiel zu verlieren. Das sind die schönen Zahlen.

Die nicht so schönen Zahlen lesen sich so: seit 13 Jahren kein Meistertitel mehr, seit sieben Jahren das regelmäßige Ausscheiden im Achtelfinale der Champions League. Arsenal ist kein Contender mehr, kein Anwärter auf wichtige Titel - mit Ausnahme des FA Cups. In der Premier League und der Königsklasse laufen die Gunners seit Jahren der Musik hinterher.

Wenger hatte den englischen Fußball wachgeküsst, er war ein Pionier und Wegbereiter. Er hat dem Kick and Rush den Garaus gemacht. Wengers Ankunft war ein Kulturschock für die Engländer, die doch bis dahin tatsächlich geglaubt hatten, ihre Art zu spielen sei die spektakulärste. Und er war der Anfang großer Karrieren ausländischer Trainer auf der Insel.

Was will Arsenal wirklich?

In den Diskussionen um Wenger und die Wenger-Boys, diese Mannschaft hochbegabter Talente, die doch so betörenden Fußball spielen kann und sich zu einer Offensiv-Marke entwickelt hat, kommt eine ganz zentrale Frage zu kurz: Wollen die Gunners, überspitzt formuliert, überhaupt den schnellen Erfolg - oder "reicht" ihnen die regelmäßige Teilnahme an der Champions League zur Umsetzung ihrer Ziele?

Nimmt man die Transferausgaben der Big Five in England, also den beiden Manchester-Klubs, Chelsea, Liverpool und Arsenal, dann hecheln die Gunners auch hier der Konkurrenz meilenweit hinterher. Vergleichsweise moderate rund 370 Millionen Euro hat Arsenal in den vergangenen fünf Jahren für neue Spieler ausgegeben.

An die Powershopper aus Liverpool (rund 490 Millionen), Chelsea (rund 600 Millionen), Manchester United (rund 690 Millionen) und City (rund 700 Millionen) kommt Arsenal da nicht ran. Ganz zu schweigen von den horrenden Ablösesummen und Abfindungen für neue Trainer und deren Stab. In London geht man etwas sparsamer zu Werke, was einen ganz elementaren Teil der Klubphilosophie widerspiegelt.

Seit Jahren führt der Amerikaner Stan Kroenke mehrheitlich den Klub, der Multimilliardär sieht im FC Arsenal aber längst mehr als "nur" einen Fußballverein. Der FC Arsenal ist eine Franchise, ein Unternehmen, das in erster Linie finanzielle Interessen verfolgt. Und wenn am Ende in der Bilanz mehr als eine schwarze Null steht, dann ist die Franchise glücklich.

Kroenke, dem unter anderem auch noch Anteile an den LA Rams (Football), den Denver Nuggets (Basketball) und der Colorado Avalanche (Eishockey) hält, interessieren da die emotionalen Begehrlichkeiten der traditionellen Fans eher weniger. Wenn ein Titel zu holen ist, dann her damit. Aber eben nicht auf Teufel komm' raus. Die Qualifikation für die Champions League ist der Meilenstein - und den hat Wenger verlässlich wie kein anderer in der Premier League erreicht.

Deshalb gab es und wird es wohl auch in naher Zukunft bei den Gunners keinen irrsinnigen Transfer rund um die 100-Millionen-Euro-Marke geben. Die rund 45 Millionen Euro, die der Klub in diesem Sommer für Granit Xhaka an Borussia Mönchengladbach überwiesen hat, waren schon "verschwenderisch" genug.

Presse: "Wenger bringt den Klub um"

Es ist oft die Rede davon, dass ein Dinosaurier wie der 67-jährige Wenger für die Vergangenheit des Fußballs stünde. In Wahrheit sind sie zum Teil auch dessen Zukunft. Zumindest in England, wo sich die 50+1-Regelung längst in Luft aufgelöst und die sichere jährliche Teilnahme an der Champions League gepaart mit überschaubaren Kaderkosten fundamentalen Charakter hat. Auch deshalb soll Wenger, dessen Vertrag am Ende der Saison ausläuft, längst wieder ein neuer Kontrakt vorliegen.

Die Partie gegen die Bayern wurde im Vorfeld zu einer möglichen Zäsur in der Beziehung zwischen Arsenal und Arsène stilisiert und vielleicht wird es auch so kommen. Die Yellow Press hat keine Lust mehr auf Wenger, die "Sun" polterte am Mittwoch wenig charmant: "Wenger raus! Chaotische Gunners gedemütigt, Fans marschieren gegen Boss Wenger. Das 10:2 ist der Beweis, dass Wenger den Klub umbringt und gehen muss. Arsenal, ruhe in Frieden."

Die Zerwürfnisse zwischen Klub und Wenger auf der einen und den Fans und sogar einzelnen Spielern auf der anderen Seite sind groß. Und sehr wahrscheinlich nicht mehr zu kitten. Aber noch gilt im Norden Londons, was seit mehr als zwei Jahrzehnten gilt: Der einzige, der Arsène Wenger entlässt, ist Arsène Wenger selbst.


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