Die Debatte über den VAR reißt auch am 21. Spieltag der Fußball-Bundesliga nicht ab. Befeuert wird sie insbesondere durch den zweifelhaften Feldverweis für den Münchner
Fünfeinhalb Jahre nach der Einführung des Video-Assistenten in der Fußball-Bundesliga gibt es über einen wesentlichen Aspekt nach wie vor erregte Debatten: Wann ist eine Intervention des VAR angebracht und wann nicht?
Laut Regelwerk ist die Antwort denkbar simpel: Einen Eingriff soll es nur bei einer klaren und offensichtlichen Fehlentscheidung des Schiedsrichters in einer spielrelevanten Situation geben oder wenn der Unparteiische einen schwerwiegenden Vorfall übersieht.
Die Praxis stellt sich gleichwohl erheblich komplizierter dar: Immer wieder gibt es Fälle, in denen die einen davon überzeugt sind, dass der Referee gravierend daneben liegt, während die anderen die Entscheidung richtig, vertretbar oder doch zumindest nicht gänzlich abwegig finden.
Dass es zu solchen sehr unterschiedlichen Bewertungen kommen kann, liegt nicht zuletzt daran, dass es bei der Auslegung und Anwendung des Regelwerks in der Praxis einen relativ großen Graubereich gibt, der Ermessensspielraum für die Unparteiischen also erheblich ist. Das gilt insbesondere für die Bewertung von Zweikämpfen und Handspielen, bisweilen auch für die persönlichen Strafen.
"Enteierte" Schiedsrichter?
Entsprechend ist es vielfach nicht so einfach, die Grenze zu ziehen zwischen einer Entscheidung, die mit Bauchschmerzen gerade noch zu akzeptieren ist, und einer, für die es kein vernünftiges Argument gibt. Dass eine Szene oft genug auch durch die Vereinsbrille gesehen und kommentiert wird, kommt wesentlich hinzu.
Vor einer Woche hatte sich der VfB Stuttgart, vor allem sein Trainer
Die Stuttgarter machten geltend, Schiedsrichter Sascha Stegemann habe auf dem Feld die bewusste Entscheidung getroffen, weiterspielen zu lassen. Das könne zumindest nicht klar falsch gewesen sein, wenn die Überprüfung am Monitor so viel Zeit beansprucht habe. Der Eingriff des VAR sei somit falsch gewesen. Labbadia fand gar, die Unparteiischen würden von den Video-Assistenten "enteiert".
Rot für Upamecano war eine zu harte Entscheidung
Umgekehrt verhielt es sich am Samstagnachmittag in der Begegnung zwischen Borussia Mönchengladbach und dem FC Bayern München (3:2): Da hätten es die Bayern gerne gesehen, wenn Schiedsrichter Tobias Welz sich seine Entscheidung, Dayot Upamecano schon nach acht Minuten des Feldes zu verweisen, noch einmal in der Review Area angeschaut hätte.
Der Verteidiger hatte Alassane Pléa bei einem Laufduell kurz vor dem eigenen Strafraum leicht an die Schulter gegriffen, woraufhin der Gladbacher, der nur noch Torwart Yann Sommer vor sich hatte, erst ins Straucheln gekommen und schließlich zu Boden gegangen war. Welz bewertete Upamecanos Einsatz als Foulspiel und zudem als Vereitelung einer offensichtlichen Torchance – die zweifellos vorlag.
In der Sendung "Doppelpass" sagte Welz, Pléa sei durch Upamecanos Griff an die Schulter aus der Balance gekommen, das sei für ihn "das entscheidende Argument". Der Gladbacher sei alleine auf den Torwart zugelaufen und habe das Tor erzielen wollen, weshalb es für ihn keinen Grund gegeben habe, sich fallen zu lassen.
Welz: "Absolut nichts für den Videobeweis"
VAR Tobias Stieler hätte, so der Spielleiter, "keine anderen Bilder liefern können" – also keine, die Welz‘ Wahrnehmung widerlegten. Deshalb kam es nicht zu einem Eingriff. Die Entscheidung habe im Graubereich gelegen und sei "damit absolut nichts für den Videobeweis" gewesen, sagte der 45-jährige Schiedsrichter.
Welz' Bewertung des Zweikampfs zwischen Upamecano und Pléa teilten viele nicht, wofür es gute Gründe gab: Der Impuls gegen die Schulter des Gladbacher Angreifers war nur gering, und es ist zweifelhaft, dass er ursächlich dafür war, dass Pléa ins Stolpern geriet und fiel, selbst wenn er mit einiger Geschwindigkeit unterwegs war.
Upamecanos Einsatz als Stoßen, Halten oder Ziehen zu bewerten, war eine überharte Entscheidung, Weiterspielen wäre die deutlich bessere Entscheidung gewesen. Aber war die getroffene deshalb glasklar und unzweifelhaft falsch?
Auch in England streitet man vehement über den VAR
Tobias Welz hat jedenfalls deutlich gemacht, dass er zu seiner Entscheidung steht, auch mit zeitlichem Abstand. Die Diskussionen über den Video-Assistenten gingen trotzdem – oder gerade deshalb – weiter, und es bleibt dabei, dass sich im Wesentlichen zwei Positionen gegenüberstehen: Für die einen soll die Eingriffsschwelle möglichst hoch sein, den anderen wäre es lieber, wenn der Schiedsrichter häufiger an den Monitor liefe, um sich selbst noch einmal ein Bild zu machen. Mal dominiert die eine Position in der Debatte, mal die andere.
Einig sind sich beide Lager in ihrer Unzufriedenheit mit dem VAR – was kein rein deutsches Problem ist: In anderen großen Profiligen gibt es ähnliche Debatten und eine ähnliche Kritik. So etwa in der englischen Premier League, wo die Schiedsrichtervereinigung PGMOL nach dem vorvergangenen Spieltag in einer Erklärung mehrere Fehlentscheidungen mit VAR-Beteiligung eingeräumt hat.
Vom Video-Assistenten Lee Mason – einem langjährigen, sehr erfahrenen Referee und VAR – hat sie sich sogar getrennt, "in gegenseitigem Einvernehmen", wie es offiziell heißt. Der neue Schiedsrichter-Chef Howard Webb hat zurzeit alle Hände voll zu tun.
Was für eine "Challenge" spricht
Die wiederkehrenden Diskussionen über den VAR dürften inzwischen viele ermüden, auch die Unparteiischen selbst. Doch die von manchen Fans geforderte Abschaffung des Video-Assistenten ist keine realistische Option. Im Gegenteil wird der VAR in immer mehr Ländern und Wettbewerben eingeführt. Denn nüchtern betrachtet trägt er bei aller Kritik tatsächlich dazu bei, die Zahl der spielrelevanten Fehlentscheidungen deutlich zu reduzieren.
Vielleicht könnte es eine Idee sein, wenn die Regelhüter beim International Football Association Board und bei der Fifa ernsthaft über die Einführung einer "Challenge" nachdächten, wie es sie bereits in anderen Sportarten gibt, etwa beim American Football. Eine Challenge würde bedeuten, dass die Teams selbst entscheiden, wann eine Entscheidung des Schiedsrichters im Rahmen eines On-Field-Reviews überprüft wird.
Das würde das Problem der Eingriffsschwelle lösen, weil ein Eingriff dann nicht mehr davon abhinge, ob der VAR eine Entscheidung als klar und offensichtlich falsch bewertet. Natürlich müsste die Zahl der Challenges begrenzt werden, beispielsweise auf eine pro Team und Halbzeit.
Würde die Entscheidung nach einem On-Field-Review vom Schiedsrichter geändert, bekäme das betreffende Team die Möglichkeit einer weiteren Challenge. Überprüft werden könnten nur jene spielrelevanten Entscheidungen, die auch jetzt schon im VAR-Protokoll aufgeführt sind: Tore, Elfmeter, Rote Karten, Spielerverwechslungen.
Die Unparteiischen würden von einer Last befreit
Schwarz-weiß-Entscheidungen – etwa ein Handspiel des Torschützen oder eine Abseitsstellung vor einem Tor – könnten vom VAR weiterhin obligatorisch überprüft werden, würden also nicht unter die Challenge fallen.
Gewiss: Auch dieses System hätte seine Nachteile. So könnte etwa ein schwerwiegender Fehler nicht mehr überprüft werden, wenn alle Challenge-Möglichkeiten in Anspruch genommen wurden. Und natürlich gäbe es auch weiterhin Diskussionen über die finale Entscheidung, die der Referee nach dem Gang an den Monitor trifft. Das wird sich aber ohnehin nicht ändern lassen.
Die Unparteiischen und ihre Video-Assistenten wären jedoch von der Last befreit, in einem großen Graubereich festlegen zu müssen, wann die Grenzen zu Schwarz und zu Weiß überschritten sind. Die Verantwortung für die Entscheidung, wann eine Szene überprüft wird, läge bei den Teams – und auch das Risiko, mit einer Eingabe zu scheitern und dann in der jeweiligen Halbzeit keine weitere Möglichkeit mehr zu haben, ein On-Field-Review zu beantragen.
Die Challenge könnte Bewegung in die verfahrene und verhärtete Diskussion über den VAR bringen. Und sie könnte die Referees deutlich entlasten. Eine undenkbare Option? Das war die Einführung des Video-Assistenten lange Zeit auch.
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