Patrick Ittrich beschreibt das Stadion als rechtsfreien Raum und sein eigenes Handeln als "kurze Leine". Das offenbart ein seltsames Selbstverständnis des Schiedsrichters.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Mara Pfeiffer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Groß war die Aufregung am Samstag rund um das Spiel von Borussia Mönchengladbach gegen Rasenballsport Leipzig: Trainer Marco Rose, einst voreilig aus Gladbach abgereist, trainiert in Leipzig, Max Eberl, lange Jahre Geschäftsführer Sport bei den Borussen und als solcher hoch angesehen, wird ihm folgen. Keine Konstellation für Fußballromantiker*innen. Komplizierter wurde die Situation, als die Fans in Gladbach Tapeten entrollten, auf denen sie ihrem Unmut über die Vorgänge mit der mehrfachen Verwendung des Wortes "H**ensohn" Luft machten, was wiederum Schiedsrichter Patrick Ittrich aufbrachte. Er ließ dazu auffordern, die Bänder zu entfernen, der Stadionsprecher sagte eine drohende Spielunterbrechung durch, woraufhin die schmähenden Tapeten verschwanden.

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Bei Fans wurden Erinnerungen wach an die Vorgänge rund um TSG-Mäzen Dietmar Hopp. Als der Anfang 2020 im Stadion ebenfalls mit dem Wort "H**ensohn" belegt wurde, hatte das mit Einsatz des "Dreistufenplans" zu einer Spielunterbrechung geführt. Dies nämlich ist die erste Stufe des Plans, das Spiel zu unterbrechen und eine Stadiondurchsage zu verlangen.

Ein Spielabbruch ist das letzte Mittel

Am sky-Mikro nach der Partie bestärkte Ittrich den Eindruck, er habe diesen Plan angewendet, als er auf Nachfrage zum Instrument sagte: "Ja, den gibt es. Also, das heißt, einmal das Spiel unterbrechen. Dann geht man in die Kabine und danach ist der Spielabbruch letztendlich das letzte Mittel. Es muss auch verhältnismäßig sein. Aber ich glaube, bei Spruchbändern, wo Beleidigungen oder Verschmähungen oder solche Äußerungen zu sehen sind, da habe ich eine relativ kurze Leine. Ich finde, dieser rechtsfreie Raum, sowohl im Internet als auch im Stadion, das muss unterbunden werden, und da muss auch klar gegen vorgegangen werden."

In der allgemeinen Aufregung sind danach mehrere Themen ungut vermischt worden, die ich hier gern aufdröseln wurde. Das erste ist die Frage, wieso der Dreistufenplan augenscheinlich keine Anwendung findet, wenn marginalisierte Menschen im Stadion diskriminiert werden, er den Schiedsrichter*innen aber einfällt, wenn es gegen Funktionär*innen geht. Dieses Problem versuchte der DFB im Nachgang, galant zu lösen: Schiedsrichter-Lehrwart Lutz Wagner sagte im Deutschlandfunk, es habe sich eher um eine Vorstufe des Dreistufenplans gehandelt.

Statt ironisch zu fragen, ob das nicht einen Dreieinhalb- oder Vierstufenplan bedeutet, sei an dieser Stelle festgehalten: Das Signal ist dennoch verheerend. Denn egal, ob es nun Stufe Null-Komma-Fünf oder eins war, bleibt zurück, dass der Plan eben nicht angewendet wird, wenn es um besonders schutzbedürftige Gruppen geht. Genau dafür aber ist er gedacht.

Zweitens, selbst bei einer Vorstufe wäre der Plan entgegen der Detailbestimmungen eingesetzt worden, die der DFB nach der Causa Hopp festgelegt hat. Die nämlich stufen "H**ensohn" lediglich als Beleidigung ein, nicht aber als Diskriminierung (dazu gleich mehr), weshalb der Plan an diesem Tag gar nicht hätte greifen dürfen. Das weiß auch Schiedsrichter Patrick Ittrich.

Das Stadion ist eben kein rechtsfreier Raum

Wie er persönlich diese Festlegung bewertet, ist völlig irrelevant. Er hat sich über bestehende Regeln erhoben, das ist problematisch. Angenommen, ich wäre Barkeeperin und der Meinung, Jugendliche sollten erst ab 18 Bier trinken und nicht ab 16 Jahren. Das wäre meine Privatsache und ich hätte keine Befugnis, einer 17-Jährigen ihr Bier abzunehmen. Wäre in einer Straße die Geschwindigkeitsbegrenzung 50 km/h, mir erschienen aber 30 km/h sinnvoller, könnte ich als Polizistin keine Strafen aussprechen für Leute, die 42 km/h fahren. Niemand steht über den Regeln, auch nicht Patrick Ittrich. Im Nachhinein als DFB zu sagen, der Dreistufenplan sei nicht zur Anwendung gekommen, wirkt wie ein ungelenker Versuch, dessen Aussagen einzufangen. Besser und glaubwürdiger wäre Offenheit damit gewesen, dass diese problematisch sind.

Es ist zudem unsinnig, das Stadion als rechtsfreien Raum zu bezeichnen, das Gegenteil ist der Fall. Auch abseits des Plans haben Schiedsrichter*innen Mittel, um gegen Beleidigungen und Banner, gegen diskriminierende Äußerungen und anderes Fehlverhalten vorzugehen. Patrick Ittrich ist zudem nun wirklich niemand, der die Öffentlichkeit scheut. Von einer während der aktiven Karriere veröffentlichten Biografie über einen Podcast sowie den sehr aktiven Twitter-Auftritt bis hin zu Gastbeiträgen in Medien ist der Polizist und Schiedsrichter meinungsstark präsent. Wenn er also diskutieren möchte, welche Schwierigkeiten aus seiner Sicht bestehen in Sachen Stadion und Regelwerk, findet er dafür ganz sicher Ansprechpartner*innen.

Alles eine Frage der Wortwahl?

Wie aber ist es nun um den Begriff "H**ensohn" bestellt? Diese Thematik ist auch innerhalb des DFB nicht abschließend geklärt, was ein Blick auf die Plattform "Sprachkick" zeigt, an der der Verband mitgewirkt hat. Dort heißt es:

"Auch privilegierte Menschen können mit diskriminierenden Äußerungen beschimpft werden. Wird ein reicher, weißer Vereinsoffizieller beispielsweise als ‚Sohn einer Hure‘ verunglimpft, wäre das als Diskriminierung zu sanktionieren. Die Äußerung diskriminiert zwar nicht den privilegierten, reichen Vereinsfunktionär selbst, sondern wird gegen ihn als Beleidigung genutzt. Gleichzeitig aber beinhaltet die Aussage eine allgemeine Abwertung von Frauen in der Sexarbeit und ihrer Kinder und ist damit diskriminierend."

Die Erklärung für diese Diskrepanz ist simpel, zwischen den beiden Festlegungen liegen zwei Jahre – und die Sensibilität für das Thema Sprache hat sich seither weiterentwickelt. Auch ein Wort wie "Id*ot", in den Erklärungen des Dreistufenplans ebenfalls lediglich als eine Beleidigung eingestuft, ist diskriminierend, denn es ist ableistisch. Die Diskussion, die wir eigentlich führen müssen, wäre demnach: Wie werden wir im Umgang mit verletzenden und diskriminierenden Begriffen auch im Stadion noch sensibler? Gibt es Wörter, die wir als Teil eine "Folklore" eher bereit sind zu akzeptieren als andere? Und wie kann die Fußballgemeinschaft da wachsen?

Abseits des Dreistufenplans ist die Thematik gerade in den Fanszenen längst präsent, und das ist gut so, denn: Sie wird nicht mit Gewalt und wöchentlichen Spielabbrüchen durchzuprügeln sein. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass Sanktionen auszuschließen sind. Vor allem aber müssen wir im Gespräch bleiben und den Willen haben, Dinge positiv zu verändern.

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