Eine Stallorder pro Lando Norris ist seit Wochen ein viel diskutiertes Thema bei McLaren. Experten warnen, dass die Gemengelage sehr sensibel ist. Denn Teamkollege Oscar Piastri hat eigene Ziele und Ansprüche.
"Der Teamkollege ist dein erster Gegner" lautet eine Weisheit aus der Formel 1. Denn klar ist: In der Regel haben die beiden Fahrer eines Rennstalls das gleiche Auto und damit die gleichen technischen Voraussetzungen. Das Duell ist also ein echter Maßstab.
Beide können auf der Strecke aber auch taktisch zusammenarbeiten und sich gegenseitig Schützenhilfe leisten. Dass McLaren bislang genau darauf verzichtete und keine Stallorder aussprach, um Lando Norris im Titelkampf gegen den WM-Führenden
Hat Piastri eine spezielle Klausel in seinem Vertrag?
Der frühere Weltmeister
Piastri fahre sehr stark, deshalb verdiene er aus seiner Sicht jede Chance auf GP-Siege, sagte der Deutsche weiter: "Rein rechnerisch kann er auch noch Weltmeister werden. Er liegt nicht so weit hinter Lando. Man kann also nur schwerlich von ihm verlangen, dass er Rennsiege opfert."
Wenn aus Freunden erbitterte Feinde werden
Rosberg weiß aus eigener Erfahrung, wie sensibel das Thema innerhalb eines Rennstalls und zwischen den Fahrern ist. In der gemeinsamen Zeit bei Mercedes wurden aus den einstigen Jugendfreunden Rosberg und
Und Ex-F1-Fahrer Martin Brundle glaubt in seiner Sky-Kolumne gar: "Piastri sind Norris' WM-Chancen egal. Das hat man schon in Ungarn deutlich gesehen, als er in der ersten Kurve rustikal in Führung gegangen ist." Er bewundere diese Einstellung, schrieb Brundle: "Denn das ist der Grund, weshalb Piastri Meisterschaften gewonnen hat und jetzt in einem Formel-1-Siegerauto sitzt. Das Letzte, was ihn da begeistert, wäre, wenn Norris im gleichen Auto Weltmeister werden würde."
Brundle: Weltmeister meist skrupellos und egoistisch
Allerdings müsse das nicht zwangsläufig bedeuten, dass Piastri nicht doch irgendwann dem Teamkollegen helfe. Piastri habe sich ja bereits "da und dort" für Norris und die Interessen des Teams eingesetzt, erklärte Brundle: "Aber diese Rennfahrer-Mentalität und dieser Killerinstinkt sind wichtig". Aus diesem Holz seien Champions geschnitzt – und Brundle ist sich nicht sicher, ob Piastri in Ungarn Norris die Führung überlassen hätte, wie es der Brite getan hat.
"Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur: Viele skrupellose und egoistische Weltmeister, gegen die ich gefahren bin, die hätten es nicht gemacht." Und diese Haltung könne laut Brundle intern zu Schwierigkeiten führen. Das harte Manöver von Piastri gegen Norris zuletzt in Monza kurz nach dem Start sei dafür ein gutes Beispiel, erklärte der ehemalige F1-Fahrer weiter. McLaren habe in dem Moment "die Kontrolle über das Rennen verloren".
McLaren-Teamchef Andrea Stella weigerte sich bislang beharrlich, von einer Nummer eins im Team zu sprechen: "Ich denke, die Nummer-Eins-Rolle funktioniert gut als Schlagzeile, aber in der Realität ist es schwer, das umzusetzen", sagte er kürzlich.
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Stattdessen öffnet sich der Traditionsrennstall mehr und mehr dem Umstand, dass eine Teamorder in der einen oder anderen Situation wohl unerlässlich ist, wenn man einen, im Idealfall sogar beide Titel holen will. In der Konstrukteurswertung hat McLaren acht Rennen vor dem Saisonende nur noch acht Punkte Rückstand auf Red Bull, Norris auf Verstappen hingegen 62 Zähler, Piastri liegt als Gesamtvierter 106 Punkte hinter dem Niederländer. Stella versuchte bisher, so vage und diplomatisch wie möglich zu bleiben, setzt aber auf das Verständnis von Piastri.
McLaren-Teamchef: "Die Zukunft gehört ihm, es ist Oscars Zukunft"
"Wenn man seinen Teamkollegen dabei unterstützt, die Meisterschaft für das Team zu gewinnen, ist das ein enormer Boost", sagte Stella: "Wenn wir zum Beispiel beide Meisterschaften gewinnen, kommt das dem ganzen Team zugute, auch wenn er der andere Fahrer ist", betont der Teamchef. Und ergänzt: "Die Zukunft gehört ihm, es ist Oscars Zukunft. Er muss sicherstellen, dass er die Unterstützung, die er dem Team oder Lando gibt, als Investition ansieht."
Gleichzeitig stellt Stella wenige Tage vor dem Rennen in Baku aber auch klar, dass sich Piastri möglicherweise für den Gesamterfolg unterordnen muss: "Wir kämpfen gegen Max Verstappen, also denke ich, wenn wir einen Fahrer unterstützen wollen, müssen wir den auswählen, der in der besten Position ist", sagte er. Und in dieser ist aktuell nunmal Norris.
Wende bei McLaren: Piastri soll Norris im WM-Kampf unterstützen
Im Gespräch mit der BBC wurde Stella nun nochmals deutlicher: "Wir werden unsere Unterstützung auf Lando ausrichten, aber wir wollen das tun, ohne zu große Kompromisse bei unseren Prinzipien einzugehen", sagte der Teamchef. Das Interesse des Teams werde "an erster Stelle" stehen, man wolle aber weiterhin "beiden Fahrern gegenüber fair sein". Keine leichte Situation – weder für Stella selbst, noch für Piastri und Norris.
Letzterer weist darauf hin, dass McLaren die Zeit nicht davonlaufe, aber so langsam dahinschleiche. Er glaubt an die Chance, die Titel zu holen, da sich Red Bull und Verstappen im Moment in der Krise, in einem Abwärtssog befinden und erst Lösungen finden müssen. Aktuell hat McLaren das deutlich bessere Auto. Und damit das Momentum auf der eigenen Seite.
Die Frage nach einer Stallorder müsse "letztendlich das Team beantworten, nicht ich", sagte Norris noch vor einigen Tagen. Er räumt aber auch ein: "Wenn du um eine Meisterschaft kämpfst, dann willst du natürlich jede Kleinigkeit optimieren. Ich tue, was ich kann. Am einfachsten ist, wenn ich die Rennen einfach gewinne."
Norris: "Ich will keine Meisterschaft geschenkt"
Deutlicher wurde Norris nach der neuesten Stella-Aussage am Donnerstag: "Ich will keine Meisterschaft geschenkt. Es wäre natürlich erstmal schön, einen Titel zu haben, aber langfristig denke ich nicht, dass man darauf stolz ist", sagte der McLaren-Star. Er sei aber dennoch dankbar, von jetzt an die Hilfe von Teamkollege Piastri zu bekommen. "Jetzt gibt es klarere Anweisungen, wie wir gegeneinander Rennen fahren und wie sehr wir dabei ins Risiko gehen".
Das sagt Piastri zur McLaren-Entscheidung
Die neue Teamorder dürfte intern aber weiterhin für Diskussionen sorgen. Die Vereinbarung sei an manchen Stellen "ein bisschen kompliziert", sagte Piastri vor dem Grand Prix in Baku, "wir müssen das noch weiter besprechen."
"Ich werde nicht in jedem Rennen für Lando rechts ranfahren", sagte Piastri, "so will keiner von uns beiden Rennen fahren. Es wird nicht jede Entscheidung darauf ausgerichtet sein, dass ich hinter ihm lande, ich möchte selbst ja auch noch Dinge in diesem Jahr erreichen." Jedes mögliche Szenario im Voraus zu besprechen sei zudem "unmöglich", sagte Piastri.
Zumindest das frühe und harte Überholmanöver in Monza wäre "unter den exakt gleichen Umständen" mit der neuen Ansage wohl nicht geschehen, räumte Piastri ein.
Verwendete Quellen
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