Mit Beginn der Koalitionsverhandlungen ist die Einführung eines deutschlandweiten, gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro sehr wahrscheinlich geworden. Experten streiten über die Konsequenzen: Während die einen die massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen befürchten, erwarten die anderen eine Reduzierung der Staatsausgaben durch höhere Einkommen.

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Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro gehe die SPD nicht in eine große Koalition, betonte Verhandlungsführer Olaf Scholz gestern in der TV-Sendung "Anne Will". Ein niedrigerer Lohn sei würdelos. Würdelos, sei es keine Arbeit zu haben, konterte Julia Klöckner von der CDU. Es helfe den Menschen nicht, wenn sie statt eines Niedriglohns mit Zuschuss vom Staat im Falle eines Mindestlohns gar keinen Job mehr fänden.

Der Streit darüber, was tatsächlich passiert, wenn in Deutschland kein niedrigerer Stundensatz als 8,50 Euro mehr gezahlt werden darf, geht nicht nur quer durch die Parteien, die Auswirkungen eines gesetzlichen Mindestlohns sind auch in der Wissenschaft höchst umstritten.

Sind bis zu 1,2 Millionen Arbeitsplätze in Gefahr?

Prof. Dr. Andreas Knabe und Prof. Ronnie Schöb sind Wirtschaftswissenschaftler an der Freien Universität zu Berlin. In einer 2010 publizierten Studie haben sie untersucht, welche Folgen ein Mindestlohn von 8,50 Euro für den Wirtschaftsstandort Deutschland hätte - und kamen zu einem vernichtenden Ergebnis. Bis zu 1,2 Millionen Arbeitsplätze, darunter rund 300.000 in Ostdeutschland, könnten nach Ihren Erkenntnissen regelrecht vernichtet werden. Der Staatshaushalt würde nach ihren Berechnungen mit mindestens vier Milliarden Euro jährlich zusätzlich belastet.

"Ein Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze", sagt Schöb unserem Portal. Betroffen seien gering entlohnte Arbeitnehmer in den Neuen Bundesländern und Arbeitslosengeld-II-Aufstocker. Betroffen "sind auch gering qualifizierte Arbeitslose, denen der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt erschwert wird", betont Schöb.

Weil viele der sogenannten Zuverdiener oder Aufstocker schlecht ausgebildet seien, werde es sich kein Arbeitgeber leisten können, ihnen einen Lohn von 8,50 Euro zu zahlen, glauben die Wissenschaftler. Der Mindestlohn würde so auch den Staat enorm belasten. Weil zusätzliches Arbeitslosengeld anfalle und die Sozialleistungen wegfallen würden, rechnen die Wissenschaftler mit Zusatzausgaben der öffentlichen Kassen von mehreren Milliarden Euro jährlich.

Mindestlohn: Ein Fest für die öffentlichen Haushalte?

Zu einem gänzlich gegenteiligen Ergebnis kommt eine Studie des Schweizer Unternehmens Prognos im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde würde sich nicht nur die Einkommenssituation von fünf Millionen Menschen verbessern, auch der deutsche Staat könnte seine angespannte Haushaltslage mit über sieben Milliarden Euro entlasten, heißt es in der Abschlusspublikation von 2011.

Um bis zu 14,5 Milliarden Euro würde sich das Einkommen der privaten Haushalte erhöhen, wenn alle Arbeitnehmer ihren alten Job mit neuem Mindestlohn behielten. Dadurch würden mehr Steuereinnahmen und Sozialbeiträge fließen: 2,7 Milliarden Mehreinnahmen könnte der Staat laut den Schweizer Forschern verbuchen, hinzu kämen noch verminderte Ausgaben für Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Wohngeld oder Kindergeldzuschlag. Der Mindestlohn, er wäre ein Fest für die Staatseinnahmen. Je höher, desto besser, glaubt man dieser Studie.

Würde im Osten niemand mehr zum Friseur gehen?

Was die Studie nicht berücksichtigt, ist der mögliche Verlust von Arbeitsplätzen. Andererseits ist zweifelhaft, ob zum Beispiel in Ostdeutschland niemand mehr zum Friseur gehen würde, wenn die Preise durch den Mindestlohn steigen würden, zumal viele Arbeitnehmer dann ja deutlich mehr Geld zu Verfügung hätten.

Was genau bei der Einführung eines Mindestlohns passiert, kann niemand definitiv voraussagen. Aber eines ist sicher, mit seiner Einführung wird aus einem politischen Streit eine gesellschaftliche Realität, deren Auswirkungen sich in harten Zahlen widerspiegeln werden. Oder anders gesagt: In einigen Monaten werden wir es wissen.

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