Gewerkschaften gehen inzwischen deutlich offensiver in Tarifverhandlungen. Das ist auch notwendig, findet Verdi-Chef Frank Werneke. Ein Gespräch über die neue Macht der Arbeitnehmer, Konzepte gegen die Wirtschaftskrise und die Bedeutung der Ost-Landtagswahlen in diesem Jahr.
Rund 5,7 Millionen Menschen sind in Deutschland Mitglied einer Gewerkschaft. Allein 1,9 Millionen Beschäftigte organisieren sich bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, kurz Verdi. Nach Jahren des Schwunds machten die Gewerkschaften zuletzt eine ungewohnte Erfahrung: Die Mitgliederzahlen steigen wieder. Und die Arbeitnehmervertreter treten in Tarifverhandlungen zunehmend offensiv – und streikfreudig – auf.
Dreht sich da grundsätzlich etwas in der Arbeitswelt? Zeit nachzufragen bei Frank Werneke, dem Chef von Deutschlands zweitgrößter Gewerkschaft.
Herr Werneke, sind Arbeitnehmer in Deutschland so mächtig wie noch nie?
Frank Werneke: Das kommt auf die Branche an. Es ist richtig, dass es in einigen Bereichen schwer geworden ist, freie Stellen zu besetzen. Das ändert ein Stück weit die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt – zugunsten der Beschäftigten. Außerdem brodelt es an vielen Stellen. Im privaten und kommunalen Busverkehr, an Flughäfen, in Kitas zum Beispiel. Da gibt es extreme Überlastung, die Beschäftigten wehren sich. In Berlin streiken wir gerade in vielen Kitas.
Zuletzt sind Gewerkschaften – auch Verdi – wieder streikfreudiger geworden. Ist das Ausdruck eines neuen Selbstvertrauens?
Wir waren nie streikunfreudig. Aber die Bereitschaft und ja, auch die Notwendigkeit, sich an Arbeitskämpfen zu beteiligen, ist stärker geworden. Wir haben heute eine Situation, in der sich viele Menschen das Leben – gerade in den Großstädten, wo die Mieten immer weiter steigen – nicht mehr leisten können. In der Privatwirtschaft wie im öffentlichen Dienst ist der Druck einfach riesengroß, etwas zu bewegen.
Die Anzahl der Streiks war 2023 so hoch wie lange nicht mehr. Jeder Arbeitskampf kostet aber Geld und belastet die Wirtschaft.
Die Anzahl der Streiktage lag im letzten Jahr bei 1,5 Millionen – das ist zwar eine Verdoppelung im Vergleich zu 2022, aber kein historisch hoher Wert. Ob wir streiken oder nicht, liegt auch an den Arbeitgebern und deren Bereitschaft, zu einer guten Verständigung zu kommen.
Der FDP findet: Es sind zu viele Arbeitskämpfe. Sie will das Streikrecht – zumindest im Bereich der kritischen Infrastruktur – einschränken.
Was die FDP fordert, ist: Streiks sollen so weit im Voraus angekündigt werden, dass auch der dümmste Arbeitgeber noch Streikbrecher findet. Oder dass Streiks auf vier Stunden begrenzt und damit wirkungslos werden. Das ist aber mit uns nicht zu machen. Das Streikrecht ist ein hohes Gut – und durch die Verfassung geschützt. Sollte es jemals eine politische Konstellation geben, in der solche Forderungen mehrheitsfähig sind, kann ich versprechen: Dann gehen wir nach Karlsruhe vors Bundesverfassungsgericht.
Es ist inzwischen normal, dass Gewerkschaften zweistellige Lohnforderungen stellen. Das gefährdet aber den Rückgang der Inflation – die wiederum ärmere Menschen besonders trifft.
Die Inflation geht zurück. Zuletzt lag sie bei 2,2 Prozent. Was stimmt: Es gab zweistellige Tarifabschlüsse – aber über eine Laufzeit von in der Regel zwei Jahren. Angesichts der hohen Inflation waren und sind diese Lohnsteigerungen absolut notwendig.
Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise fordern die Arbeitgeber "Mehr Bock auf Arbeit". Ist das falsch?
Dieses "Mehr Bock auf Arbeit" geht völlig an der Lebensrealität vorbei. Wer etwa in Krankenhäusern, in Kitas, in Abfallwirtschaftsunternehmen arbeitet oder wer den Nahverkehr am Laufen hält: Da geht es an die Belastungsgrenze. Es ist arrogant und hochnäsig, wenn Arbeitgeberfunktionäre und Politiker den Beschäftigten Bequemlichkeit oder gar Faulheit vorwerfen.
Die Belastung ist also zu hoch?
Ja, absolut. Wir haben kürzlich im öffentlichen Dienst eine Befragung durchgeführt. 260.000 Menschen haben sich daran beteiligt. Und 60 Prozent haben gesagt, dass sie sich nicht vorstellen können, unter den derzeitigen Bedingungen das Renteneintrittsalter gesund zu erreichen. Das waren nicht nur die Älteren, auch die 30- bis 40-Jährigen sehen das so.
Und die Antwort der Gewerkschaften darauf lautet: Arbeitszeitverkürzung?
In Teilen, ja. Im öffentlichen Dienst haben wir Beamtinnen und Beamte mit über 40 Stunden Arbeitszeit, davon sind beispielsweise Polizistinnen und Polizisten betroffen. Mit langen Arbeitszeiten findet der öffentliche Dienst nicht genügend Nachwuchs. Zumal auch eine besondere Belastung hinzukommt: Die Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst nimmt massiv zu. Oder denken Sie an Schichtarbeiter, Busfahrerinnen, Menschen, die bei Wind und Wetter draußen sind. Da setzen wir zum Beispiel Entlastungstage durch. Aber die Belastungen werden ausgeblendet von Arbeitgeberfunktionären und ihren politischen Freunden.
Es ist aber Fakt, dass nur in den Niederlanden und Dänemark weniger gearbeitet wird als in Deutschland.
Das stimmt nicht. In Deutschland ist die Teilzeitquote hoch, das verzerrt die Statistik. Dafür gibt es viele Gründe: Pflege von Angehörigen, Betreuung der Kinder, Jobs, die nur in Teilzeit ausgeschrieben sind, allein im Handel sind das Hunderttausende. Das alles hat nichts mit Bequemlichkeit zu tun.
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In diesem Jahr wird ein Mini-Wirtschaftswachstum prognostiziert. Was braucht es für eine Trendwende?
Das Wachstum ist schwach, weil die öffentlichen Investitionen in Deutschland völlig unzureichend sind. Das ist inzwischen substanzgefährdend. Ich muss mir nur den Zustand von Straßen und Wasserwegen anschauen – das ist ein echter Standortnachteil. Uns fehlen außerdem Arbeitskräfte. Und die Fachkräfte, die aus dem Ausland kommen, gehen schnell wieder: Weil Wohnungen fehlen, weil sie keinen Platz für ihre Kinder in der Kita bekommen.
Wie blicken Sie vor diesem Hintergrund auf den Etat 2025. Ist es ein guter Haushalt?
Der Haushaltsentwurf ist zu defensiv. Er bleibt unterhalb dessen, was notwendig ist. Das erneute Festhalten der Ampelkoalition an der Schuldenbremse ist eine Zukunftsbremse für Deutschland. Immerhin gibt es Verbesserungen beim Kindergeld, der Kindersofortsicherung, der Wohnungsbauförderung und der Kita-Qualitätssicherung. Das ist anzuerkennen.
Im Osten stehen in diesem Jahr drei Landtagswahlen an. Was würde ein AfD-Sieg bedeuten?
Ein AfD-Ministerpräsident wäre eine Katastrophe. Sollte die Partei an die Macht kommen, wird sie alles daransetzen, demokratische Institutionen auszuhöhlen – wie das geht, haben wir in Ungarn und auch lange in Polen gesehen. Für die Regionen in Ostdeutschland wird es dann noch schwieriger, Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen. Welche ausländische Fachkraft zieht in eine Region, wo sie nicht willkommen ist?
Müsste sich die Wirtschaft lautstärker positionieren?
In unseren Branchen sind einige Unternehmen unterwegs, die sich klar positionieren: für eine vielfältige Belegschaft, auch für eine Willkommenskultur. Aber die Arbeitgeberverbände machen sich zumindest einen schlanken Fuß. Da fehlt es zu oft an einer eindeutigen Abgrenzung zur AfD.
Haben Sie Verständnis für einen Firmenchef, der sagt: Ich habe zehn Mitarbeiter, ich will keine politischen Konflikte in der Belegschaft befeuern – also sage ich nichts?
Wenn wir nicht für den Erhalt der Demokratie kämpfen, ist sie verloren. Und da ist jeder an seiner Stelle auch in der Verantwortung. Es geht mir nicht um Vorwürfe oder eine moralisierende Haltung, das überzeugt niemanden. Aber Haltung zeigen, Eintreten für demokratische Grundwerte, für Vielfalt, Toleranz und gegen Ausgrenzung, das erwarte ich schon, auch in den Betrieben – übrigens in Ost wie West.
Auch viele Arbeiter wählen AfD. Ist das auch ein Versagen der Gewerkschaften?
Als Verdi stellen wir uns der Auseinandersetzung und positionieren uns ganz klar gegen die AfD. Wir haben das stärkste Mitgliederwachstum in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – und das nicht, weil wir kleinlaut sind. Der Nährboden für Populisten und Rechtsextreme liegt anderswo: Wenn sich der Staat aus der Fläche zurückzieht, wenn Krankenhäuser geschlossen werden, der Nahverkehr ausgedünnt wird, wenn – wie in Thüringen – ein Drittel aller Arbeitsplätze auf Mindestlohnniveau liegen. Das ist ein Fest für Radikale.
Über den Gesprächspartner
- Frank Werneke, geboren 1967, steht seit September 2019 an der Verdi-Spitze. Er ist gelernter Verpackungsmittelmechaniker und engagiert sich seit Beginn seiner Berufslaufbahn gewerkschaftlich. Beim Gründungskongress der Gewerkschaft Verdi im Mai 2001– Verdi ist ein Zusammenschluss von fünf Einzelgewerkschaften – wurde Werneke in den Bundesvorstand gewählt. Seit 1982 ist Werneke auch Mitglied der SPD.
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