Trotz der Manipulationsvorwürfe nimmt die türkische Opposition ihre Niederlage bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl auffallend zurückhaltend hin. Ihren Vertretern ist offenbar klar, dass sie dieser Tage nur zwischen Pest und Colera wählen können: zwischen Erdoganscher Diktatur oder blutigen Unruhen.
Der Wahlkampf in der Türkei war zutiefst unfair. Auch die EU hat die Umstände der Wahlen in kritisiert.
"Die Wähler hatten eine echte Wahl, aber die Bedingungen für den Wahlkampf waren nicht gleich", erklärten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn am Montag.
Sie verwiesen dabei auf eine entsprechende Einschätzung der Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu dem Urnengang in dem EU-Beitrittsland.
Dass beim Urnengang selbst manipuliert wurde, liegt zumindest nahe. Dennoch will keine der türkischen Oppositionsparteien das Ergebnis der Parlaments- und Präsidentschaftswahl vom Sonntag anfechten, keine hat ihre Anhänger zum Protest gegen den neuen und alten Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine AKP aufgerufen.
Muharrem Ince von der CHP, der erfolgreichste Erdogan-Herausforderer, verkündete stattdessen am Montag schlicht: "Ich erkenne die Wahlergebnisse an."
Dieses Übermaß an Zurückhaltung überrascht auch den Türkei-Experten Christoph K. Neumann von der Ludwig-Maximilians-Universität in München: "Ich war erstaunt, dass alle Oppositionsparteien quasi unisono gesagt haben: 'Das ist das Ergebnis und damit hat es sich'."
Unterschied von mehreren Millionen Stimmen
Verständnis für die wenig kämpferischen Worte von Ince und seinen Kollegen hat Neumann aber: "Aus meiner Sicht gibt es nur zwei mögliche Folgen des Wahlausgangs: Die unangefochtene Diktatur oder blutige Unruhen."
Zumindest für den Moment sieht es so aus, als habe sich die türkische Opposition für ersteres entschieden.
Nach offiziellen Angaben hat Amtsinhaber Erdogan bei der Präsidentschaftswahl 52,58 Prozent der Stimmen bekommen, Ince 30,64 Prozent.
Die "Plattform für faire Wahlen", bestehend aus Wahlbeobachtern der Opposition, sieht Erdogan bei 52,56 Prozent, Ince bei 31,34 Prozent. Ince sagte, es gebe in jedem Fall einen Unterschied von mehren Millionen Stimmen zwischen ihm und Erdogan. Das akzeptiere er.
Mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet kann Erdogan nun also noch freimütiger durchregieren, als er es zuletzt ohnehin schon getan hat.
Der "autoritäre Staats- und Regierungskurs" des Präsidenten werde "nunmehr endgültig zementiert", urteilt die türkischstämmige Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey von der Freien Universität Berlin.
Für die Opposition werden die Zeiten jetzt noch härter
Die Justiz? Gleichgeschaltet. Die Medien? Fest in Erdogans Griff. Die Opposition im Parlament? Quasi machtlos, auch wenn die Regierungspartei AKP am Sonntag ein paar Prozentpunkte verloren hat.
Denn im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP kommt sie auf über 53 Prozent. Und: Mit Einführung des Präsidialsystems kann der Präsident in vielen Fällen per Dekret an den Abgeordneten vorbeientscheiden.
Wie also kann es für die Opposition weitergehen? Gürbey glaubt, Erdogans Gegner hätten in den vergangenen Wochen gelernt, ihr Kräfte zu bündeln. Neumann hingegen ist skeptisch.
"Zwischen den Oppositionsparteien gibt echte Interessenkonflikte. Eine langfristig geschlossen Oppositionsfront wird es deshalb wohl kaum geben", sagt er.
Und selbst wenn: "Unter der jetzt geltenden Verfassung und dem nach wie vor geltenden Ausnahmezustand hat die Opposition ohnehin kaum eine Chance, die Situation auf demokratischem Weg zu verändern." (Mitarbeit: Frank Heindl)
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