Russlands Präsident Wladimir Putin präsentiert sich gerne als starker Mann - und wird dafür von vielen Russen verehrt. Doch Armut, Arbeitslosigkeit und fehlende staatliche Unterstützung sorgen dafür, dass der Rückhalt in der Bevölkerung bröckelt.

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Am Donnerstagabend stellt sich Wladimir Putin im russischen Staatsfernsehen in der Sendung "Direkter Draht" wieder Fragen der Bürger. Damit will er zeigen: Ich höre euch zu, ich kümmere mich um eure Sorgen, ich löse eure Probleme. Das ist auch nötig, denn die Beliebtheitswerte des russischen Präsidenten fallen.

Putin steht über dem politischen Geschehen

Über Jahre waren sie stabil: stabil hoch. "Der durchschnittliche russische Bürger weiß zwar, dass das System sehr korrupt ist", sagt Sarah Pagung, Expertin für russische Außen-, Sicherheits- sowie Informationspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). "Aber Putin schwebt wie ein Väterchen über dem politischen Geschehen und wird dafür nicht verantwortlich gemacht."

Dabei kommt ihm entgegen, dass er selbst kein Mitglied der Regierungspartei "Einiges Russland" ist. Unpopuläre Entscheidungen lasse er nach außen hin gerne "die anderen" treffen, so die Politikwissenschaftlerin. Dann inszeniere er öffentlichkeitswirksam Bilder, auf denen er etwa "die am Tisch versammelten Minister wie ein Schuldirektor zurechtweist".

Erst 2018 wurde Wladimir Putin wieder zum Präsidenten gewählt - für weitere sechs Jahre. Zwei Jahrzehnte ist der ehemalige Geheimdienstler jetzt schon an der Macht, steht aus Sicht vieler Russen für Stabilität, Ordnung und traditionelle Werte.

Außenpolitik betreibt er mit harter Hand. Mit militärischen Interventionen, etwa in Georgien, der Ukraine oder Syrien, stärkte er das Selbstbewusstsein der Bevölkerung. Bis heute steht der Großteil hinter der Besetzung der Krim 2014.

Putin verkörpert für viele Männlichkeit

Und: Das von ihm verkörperte Männlichkeitsbild gefällt vielen Landsleuten. Etwa wenn er mit nacktem Oberkörper reitet, fischt oder auf die Jagd geht. Auch wenn sich westeuropäische Medien und Internetnutzer über die Fotos lustig machen - in seinem Heimatland gibt es viele Bewunderer dieser Inszenierungen.

Gleichzeitig ist das Bild, das im Staatsfernsehen über Europa verbreitet wird, "teilweise völlig absurd". Es wirke manchmal wie Realsatire, sagt Sarah Pagung. Etwa wenn russische Medien Europa als "Gayropa" bezeichnen und davor warnen, dass Europäer auszusterben drohen, weil es immer mehr Homosexuelle unter ihnen gebe.

Doch der Rückhalt in der Bevölkerung bröckelt. Immer stärker bemerken die Menschen, dass sich politische Entscheidungen, für die auch Putin verantwortlich zeichnet, negativ auf ihren Alltag auswirken.

Lange habe es eine Art stilles Abkommen gegeben, erklärt Sarah Pagung: "Die Bevölkerung verzichtet auf gewisse Mitbestimmungsrechte - dafür geht es ihr gut." Aber die weltweite Finanzkrise hat das Land arg gebeutelt. Armut, Arbeitslosigkeit und fehlende staatliche Unterstützung bestimmen heute das Leben vieler Menschen.

Im vergangenen Jahr unterzeichnete Putin eine umstrittene Rentenreform, nach der Russen fünf Jahre länger arbeiten müssen. Ab diesem Jahr hob die Regierung den Mehrwertsteuersatz von 18 auf 20 Prozent, Lebensmittel verteuerten sich teilweise enorm.

Schon seit Jahren machen sinkende Ölpreise der Wirtschaft zu schaffen - und der Einfuhrstopp westlicher Lebensmittel als Reaktion auf Sanktionen von EU und USA wegen des Ukraine-Konflikts macht sich im Alltag bemerkbar.

Der Staat investiert ins Militär statt in die Bevölkerung

"Die Bevölkerung hat ihren Preis gezahlt: Der Rubel ist massiv eingebrochen, die Sanktionen sorgen für leere Regale. Russen, die Kredite in Fremdwährung aufgenommen hatten, können ihre Schulden nicht mehr begleichen", fasst Pagung zusammen. "Inzwischen bemerken die Menschen immer häufiger, dass die Regierung viel Geld in Militär und Rüstung steckt - es ihnen selbst aber an vielem fehlt."

2018 lagen die Militärausgaben Russlands nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts bei 61,4 Milliarden US-Dollar - weltweit haben nur fünf andere Staaten mehr dafür ausgegeben.

Lange hat sich Protest gegen die Regierung auf wenige Großstädte und Bevölkerungsgruppen begrenzt. Doch immer mehr Menschen gehen jetzt auf die Straße, beispielsweise auch in Sibirien und Südrussland.

Die breiter angelegten Demonstrationen gefährden die Stabilität des Regimes, glaubt Pagung: "Das System wird spürbar nervös. Aber man muss abwarten, wie nachhaltig sich die Proteste entwickeln - und mit welcher Strategie die Regierung längerfristig darauf reagiert."

Staatlich kontrolliertes Fernsehen, Freiräume im Internet

Was Putins System in die Hände spielt: Sämtliche russische Fernsehsender sind staatlich beeinflusst. Doch auch wenn sein Land nach wie vor als Fernsehnation gilt, bekommen auch dort immer mehr Menschen Informationen aus dem Netz.

"Das Regime versucht seit zwei, drei Jahren verstärkt, das Internet unter Kontrolle zu bringen", erklärt Pagung. Es gibt etwa ein Gesetz, das terroristische und jugendgefährdende Inhalte verbietet - und das viel Interpretationsspielraum erlaubt.

Die russische Regierung will internationale Netz-Dienstleister außerdem dazu zwingen, die Daten von russischen Nutzern auf Servern auf russischem Territorium zu speichern. "Damit wollen sie sich für den Fall der Fälle Zugriffsrechte sichern." Doch die Konzerne weigern sich bislang, dem nachzukommen.

Die Lage in Russland sei jedoch weit entfernt von der in China oder im Iran, betont Pagung. Es gebe nach wie vor freien Zugang zu Informationen. "Und es gibt auch guten investigativen Journalismus. Allerdings weiß jeder Journalist, wie schnell er aus dem Verkehr gezogen werden kann."

Aktuelles Beispiel: Der Investigativreporter Iwan Golunow war vor zwei Wochen in Moskau auf dem Weg zu einem Informanten festgenommen worden. Er wurde unter dem Vorwand festgehalten, Drogenhandel in großem Stil vorbereitet zu haben. Nach immensen Protesten kam er wenige Tage später frei. Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation "Reporter ohne Grenzen" befindet sich Russland weltweit auf Platz 149 - von 180.

Expertin: "Korruption ist das System"

"Korruption ist kein Fehler im System, sondern sie ist das System", erklärt Sarah Pagung: Der Staat schaue teilweise weg, wenn seine Repräsentanten oder Mitarbeiter sich bestechen lassen oder bestechen. Damit sichere er sich deren Loyalität. Und so entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit.

Viele Absolventen gingen trotz niedriger Gehälter in den Staatsdienst statt in die eigentlich viel besser zahlende Wirtschaft. "Weil ihnen diese Entscheidung gewisse Möglichkeiten eröffnet."

Auch Putins Fernsehauftritte sind Teil der Inszenierung. Er zeige: Obwohl er über allem schwebt, hat er einen direkten Draht zu der einfachen Bevölkerung. Die Fragen der Bürger kennt Putin vorher. Wenn ein Fernsehzuschauer aus einem kleinen Dorf berichtet, dass Geld für eine wichtige Anschaffung fehle, sorge Putin wenige Tage später medienwirksam für Abhilfe.

"Den Menschen ist schon klar, dass das alles Inszenierung ist", sagt die Expertin. "Aber das heißt nicht, dass sie Putin auch ablehnen. Da ist ein gewisser Fatalismus vorhanden." Dennoch glaubt Sarah Pagung, dass das Ansehen des Staatschefs unter seinen Landsleuten inzwischen enger mit der Innenpolitik verbunden ist - und es deswegen in absehbarer Zeit schwieriger für ihn werden kann: "Das Gefühl, in der Außenpolitik wieder wer zu sein, das trägt nicht mehr."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Sarah Pagung, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Associate Fellow am Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien
  • Statista: 15 Länder mit den weltweit höchsten Militärausgaben
  • Pressemeldung von Reporter ohne Grenzen: Freilassung von Investigativ-Journalist
  • Süddeutsche Zeitung: "Alexander Kauschanski - Darum ist Putin so mächtig"
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