31.000 – diese Zahl überraschte am 25. Februar die ganze Welt. Wolodymyr Selenskyj nannte die Anzahl der ukrainischen Soldaten, die im Krieg gefallen seien. Aber wie vertrauenswürdig ist diese Aussage? Und welche Absicht verfolgt der ukrainische Präsident damit?
Wolodymyr Selenskyj weiß, wie er mit den Massen reden muss. Schon seit Beginn der russischen Invasion meistert er die Kommunikation beispiellos. Jeden Abend veröffentlicht er eine Videoansprache, zu Beginn des Krieges postete er Selfies von sich und seinen Führungskollegen. Die Botschaft: Wir sind hier, wir bleiben, wir kämpfen.
Die Ukrainer und Ukrainerinnen feierten ihren Präsidenten dafür wie einen Helden. Unter Beweis stellte
31.000 Soldaten seien bisher im Kampf gegen die russischen Besatzer ums Leben gekommen. Andere Zahlen etwa aus Russland kommend oder den USA seien Schwachsinn. Sowohl die Ukraine als auch Russland hielten sich bisher mit solchen Zahlen verdeckt. Die Zahl getöteter Russen bezifferte Selenskyj auf 180.000.
31.000 tote Ukrainer – eine Zahl, die weit unter jenen liegt, die verschiedene Beobachter und Geheimdienste schätzten. Überraschend auch, dass überhaupt eine Zahl genannt wird. Denn üblich ist das in einem laufenden Krieg keineswegs. Warum tut Selenskyj das also? Und warum jetzt? Wie vertrauenswürdig ist diese Zahl?
Das siebte Prinzip der Kriegspropaganda
Der Militärpsychologe Hubert Annen zitiert in diesem Zusammenhang die belgische Historikerin Anne Morelli, die im Jahr 2001 die zehn Prinzipien der Kriegspropaganda identifiziert hatte. Das siebte Prinzip: "Wir erleiden sehr geringe Verluste; die Verluste des Feindes sind enorm." Auf Anfrage unserer Redaktion meint Annen, es sei davon auszugehen, dass Selenskyj mit seiner Aussage eine klare Absicht verfolgt.
Annen habe sich mit einem ukrainischen Kollegen unterhalten – und dieser meint: Die Verluste sind wahrscheinlich höher, die Situation der ukrainischen Truppen soll in ein günstigeres Licht gerückt werden. Die Ukraine wolle im Vergleich mit den Verlusten der Russen einfach besser dastehen.
"Propaganda hat ja immer zwei Zielrichtungen: einerseits den Zusammen- und Rückhalt im Inneren stärken und andererseits auf der Gegenseite Verwirrung stiften", erklärt der Experte. Letzteres dürfte im Fall von Russland schwierig sein. In der Regel werden dort die Nachrichten den Krieg betreffend propagandistisch manipuliert. Für den Psychologen ist daher klar: "Die Botschaft dürfte nach außen auf potenzielle Verbündete und Unterstützer abzielen und sie zu einer Verstärkung der Unterstützung animieren wollen."
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Opferzahl anders interpretiert?
Warum aber ist die Zahl so viel niedriger als jene, die schon länger in der Öffentlichkeit kursieren? Die "New York Times" hatte im August vergangenen Jahres einen hohen US-Beamten zitiert, der von rund 70.000 toten Ukrainern sprach. Der Militärstratege Nick Reynolds vom britischen Forschungsinstitut Royal United Services Institute (RUSI) mutmaßt, dass vermutlich andere Messmethoden genutzt wurden.
Auf Anfrage unserer Redaktion meint er, es sei nicht klar, ob Todesfälle von Militärangehörigen, die nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt waren, überhaupt berücksichtigt wurden. Soldaten etwa, die durch Krankheiten an der Front starben, was nicht selten passiert. "Ein direkter Vergleich der von verschiedenen Organisationen veröffentlichten Opferzahlen ist aufgrund methodischer Unterschiede in der Regel recht schwierig", sagt er.
Bewusst bei den Zahlen zu lügen - das würde die ukrainische Regierung wohl nicht wagen. Würde das auffliegen, könnte dies das Vertrauen westlicher Partner nachhaltig stören. Weitere Unterstützung wäre möglicherweise hinfällig, was die Chancen auf einen Sieg gegen Russland auf quasi Null herabsetzen würde. Aber Zahlen anders zu interpretieren, das könnte eine Strategie sein.
Auch der Zeitpunkt dürfte nicht zufällig gewählt sein. Klar, ein Tag nach dem zweiten Jahrestag – allein das hat Symbolcharakter. Doch auch die aktuelle Situation ist entscheidend. "Aktuell herrscht wirklich eine kritische Phase", sagt Militärpsychologe Annen. Ein "Kippen" in verschiedenen Bereichen sei feststellbar.
Die Ukrainer haben bereits seit Langem keine großen Erfolge mehr vorweisen können, gleichzeitig geht Russland wieder in die Offensive. Der Ukraine mangelt es an Munition und Personal und die Unterstützung von außen kommt auch nicht so schnell und in dem Maße, wie man es sich wünschen würde. Und dann gibt es noch die Sorge, dass Donald Trump in den USA wieder an die Macht kommen könnte. "Präsident Selenskyj muss Akzente setzen, um diese Dynamik in eine für ihn günstigere Richtung zu bringen", erklärt Annen.
Transparenz schafft Vertrauen – kann aber auch gefährlich werden
"Die Transparenz kann durchaus als Signal in Richtung westlicher Gepflogenheiten interpretiert werden", sagt der Experte weiter. Man wolle Vertrauen schaffen: "Wir sind nicht wie die Russen." Hinzu komme, dass auch die Zahl an sich vertrauenswürdig wirken soll, zumindest rein psychologisch betrachtet. Die Zahl sei so präzise, meint Annen: "Normalerweise ist von Schätzungen wie 50.000 bis 60.000 die Rede. Solche Zahlen wirken dann tatsächlich als Schätzungen. Mit 31.000 erweckt man hingegen den Eindruck, es genau zu wissen."
Allerdings musste Selenskyj auch etwas anderes bedenken: Was darf und was muss man in einem laufenden Krieg sagen? Was hilft weiter und was nicht? Auf welches Wissen hat die Öffentlichkeit ein Recht? Das sei aufgrund operativer Sicherheitsbedenken und eines Informationsumfelds, das von Propaganda überschwemmt wird, ein Problem, sagt RUSI-Experte Reynolds. Denn gleichzeitig sei eine ausreichende Transparenz wichtig, um das Vertrauen zu erhalten.
Reynolds spricht von einem Spannungsverhältnis zwischen der Vermittlung von Nachrichten an die inländische und die internationale Öffentlichkeit und der Notwendigkeit, die Moral aufrechtzuerhalten und gleichzeitig ausländischen Partnern zu signalisieren, vor welchen Herausforderungen die Ukraine steht und welche Anforderungen sie hat.
Welchen Einfluss Selenskyj mit seiner Aussage aufs Kriegsgeschehen haben wird, lässt sich laut dem Militärpsychologen Annen schwerlich prognostizieren. Und: "Sollte in der ukrainischen Bevölkerung die Überzeugung herrschen, dass es viel mehr Opfer gibt, könnte die Aktion auch kontraproduktiv wirken."
Über die Gesprächspartner
- Prof. Dr. Hubert Annen ist Militärpsychologe und Oberst der Schweizer Armee und Titularprofessor der Universität Zürich. Er leitet seit 1999 die Dozentur für Militärpsychologie und Militärpädagogik an der Militärakademie an der ETH Zürich.
- Nick Reynolds ist Forschungsbeauftragter für Landkriegsführung am Royal United Services Institute (RUSI). Zu seinen Forschungsinteressen gehören Landmacht, Wargaming und Simulation. Er ist Experte für Kriegsforschung und hält einen Master in Konflikt, Sicherheit und Entwicklung des King's College London.
Verwendete Quellen
- Schriftliche Anfrage an den Militärpsychologen Hubert Annen
- Schriftliche Anfrage an den Militärstrategen Nick Reynolds
- Wolodymyr Selenskyj: Pressekonferenz
- New York Times: Troop Deaths and Injuries in Ukraine War near 500.000, U.S. Officials say (kostenpflichtiger Inhalt)
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