- Seit rund zehn Monaten tobt der Krieg in der Ukraine und ein Ende ist nicht in Sicht.
- Immer wieder wird ein Waffenstillstand gefordert, gleichzeitig fürchten Beobachter: Russland könnte die Zeit nutzen, um wieder nachzurüsten.
- Was muss passieren, damit der Krieg endet? Wann gilt er als "vorbei"? Politikwissenschaftler Herfried Münkler gibt im Interview Antworten.
Herr Münkler, was für Bedingungen müssen erfüllt sein, damit man von einem Ende des Krieges sprechen kann?
Herfried Münkler: Zunächst: Wir dürfen Diplomatie und Krieg nicht zwingend voneinander trennen. Man muss das Zusammenwirken beider Faktoren ins Auge fassen. "Krieg zu Ende, jetzt bitte Diplomatie", wie es manche fordern, ist keine realistische Perspektive. Es wird wohl erst einmal auf einen Waffenstillstand hinauslaufen, ein Friedensvertrag ist nicht in Sicht.
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Warum?
Die Kriegsziele beider Seiten sind weit voneinander entfernt. Im Falle Russlands ist das die Zerschlagung der Ukraine als politisch selbstständiger Akteur, und die Ukraine will ihre Grenzen vor der Annexion der Krim und der Schaffung der kleinen Separatistengebiete Donezk und Luhansk wiederherstellen. Keine Seite wird bei Fortführung der Kampfhandlungen diese Ziele erreichen. Ein Friedensvertrag würde einem Eingeständnis der Unerreichbarkeit dieser Ziele gleichkommen; ein Waffenstillstand lässt das in der Schwebe.
Was bedeutet das?
Weder Selenskyj noch Putin werden sich die Bürde auferlegen, ihrer Bevölkerung in einem Frieden erklären zu müssen, warum sie diese Ziele nicht erreicht haben. Sie werden deshalb erklären, dass es sich um einen Waffenstillstand handelt, der Krieg nur vorerst beendet ist. Wie stabil der Waffenstillstand ist, wird man dann sehen müssen. In Nord- und Südkorea hält er seit Jahrzehnten. Der dann bestehende Frontverlauf wird hierbei relevant sein.
Was sind die Voraussetzungen, dass beide Seiten in einen Waffenstillstand einwilligen?
Beide Seiten müssen erkennen, dass sie ihre Kriegsziele nicht erreichen können oder dass der Preis zu hoch ist, weiter an ihnen festzuhalten. Auf ukrainischer Seite dürfte vor allem der "Verbrauch" der Generation der Männer zwischen etwa 17 und 49 Jahren eine Rolle spielen. Er ist bei der Ukraine aufgrund der unterschiedlichen demographischen Konstellation viel früher erreicht als bei den Russen. Bei den Russen könnte sich eine Bereitschaft zum Waffenstillstand einstellen, wenn die Verluste weiter nach oben gehen und klar wird, dass das Material, was zur Verfügung steht, zur Neige geht.
Was kann der Westen tun, um zu einem Waffenstillstand beizutragen?
Um die Russen an den Verhandlungstisch zu bringen, ist es aus europäischer und US-amerikanischer Sicht wichtig, die ukrainische Armee weiter zu ertüchtigen. Durch die Lieferung von Waffen und Munition müssen sie der russischen Seite unmissverständlich klarmachen können, dass der Preis für eine Fortführung des Krieges unermesslich hoch ist. Bei der Ukraine muss man anders agieren. Hier sollte man signalisieren: Wenn ihr bereit seid, bei einem einigermaßen belastbaren russischen Gesprächsangebot zu verhandeln, dann sichern wir euch eine Teilfinanzierung des Wiederaufbaus zu und übernehmen Sicherheitsgarantien unterhalb eines formellen Nato-Beitritts, die sicherstellen, dass die russische Seite den Waffenstillstand nicht zur Umgruppierung ihrer Kräfte nutzen kann, um dann den Krieg bei nächster Gelegenheit wieder aufzunehmen. Das heißt, dass sie dann nicht nur auf ukrainische, sondern auch auf europäische und amerikanische Streitkräfte treffen würde. Das ist ein relativ hoher Preis, den der Westen für die Beendigung des Krieges zu zahlen hat. Das wird man jedoch der Ukraine anbieten müssen, sonst ist sie wahrscheinlich nicht an den Verhandlungstisch zu bringen.
Könnte noch eine Partei zwischen Russland und Ukraine vermitteln?
Der Westen und China sind schon die maßgeblichen Player. Politisch sind wir auch bereits im Spiel: Mithilfe von Sanktionen etwa versucht man den russischen Siegeswillen zu erschöpfen. In vermittelter Form versucht man Einfluss auf die ukrainische Verhandlungsbereitschaft zu nehmen. Auch China kann einen gewissen Druck auf Russland ausüben. Xi Jinping hat bereits deutlich gemacht, dass die russische Drohung mit einer nuklearen Eskalation für ihn indiskutabel ist.
Was ist mit der Türkei?
Die Türkei kann zeitweiliger Vermittler sein, ist aber insgesamt nicht groß und mächtig genug. Sie ist für die künftige geopolitische Konstellation dieses Raumes ein Problem. Die Türkei nutzt die Nato-Mitgliedschaft dazu, den nuklearen Schutzschirm der USA über sich zu halten und gleichzeitig mit Russland zu tanzen. Dabei agiert sie aber zunehmend als eine selbstständige Mittelmacht, die die Sanktionen gegen Russland nur partiell mitträgt. Die Türkei ist eher ein Bestandteil des Problems als ein Teil der Lösung.
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Welche Rolle spielen die jeweiligen Bevölkerungen in Russland und der Ukraine?
Neben der politischen Führung in Kiew und im Kreml ist ihr Durchhaltewille und ihre Leidensbereitschaft entscheidend. Die Unterstützung und Zustimmung zum Krieg scheint in jüngster Zeit in Russland abzunehmen, während der Durchhaltewille in der Ukraine eher konstant bleibt. Die Russen führen einen breit angelegten Krieg gegen die ukrainische Infrastruktur. Weil sie das Militär nicht in die Knie zwingen können, wollen sie erreichen, dass die Bevölkerung Druck auf Selenskyj ausübt, der völkerrechtswidrigen Annexion zuzustimmen.
Dieser Plan scheint aber nicht aufzugehen. Dass die Unterstützung der russischen Bevölkerung nachlässt, sollte dem Regime um Putin zu denken geben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu Unmutsrevolten gegen die Belastungen durch den Krieg kommt.
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