Die neuen Proteste in Russland sind jung, dynamisch – aber noch nicht besonders breit. Ein Russland-Experte erklärt, was Alexej Nawalny machen müsste, um zum Anführer einer echten Opposition zu werden.

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"Die Jugend gegen Putin", unter dieser Schlagzeile berichtet die "Zeit" von den jüngsten Protesten in Russland. Tatsächlich sehen die Demonstrationen anders aus als noch nach den Parlamentswahlen im Winter 2011/2012: Jünger vor allem, es sind Studenten und Schüler, die ihre Aktionen über Social Media organisieren.

Doch "die Jugend gegen Putin", so einfach ist es nicht, erklärt Politikwissenschaftler Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck im Interview. Er sagt, was passieren müsste, damit der Protest sich wirklich zu einer richtigen Opposition ausweitet – und warum die harten Strafen gegen Alexej Nawalny der Regierung schaden könnten.

Herr Mangott, im Frühjahr überraschten die Proteste in Russland noch alle Beobachter, nun haben am Nationalfeiertag in 200 Städten Menschen demonstriert – erleben wir die Geburtsstunde einer Bewegung?

Gerhard Mangott: Im März war es noch nicht absehbar, ob sich die Proteste dauerhaft ausbreiten würden. Nun sieht es so aus, als ob es Alexej Nawalny gelingt, junge Menschen aus der Mittelklasse dauerhaft zu mobilisieren und für ein konkretes Projekt zu gewinnen: den Kampf gegen die Korruption.

Und das, obwohl er im Prinzip nur die sozialen Medien zur Verfügung hat, um seine Anhängerschaft zu mobilisieren.
Ich glaube, je heftiger die Behörden vorgehen, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich die Proteste verstetigen. Die 30 Tage Haft gegen Nawalny verschaffen ihm Sympathien und landesweite Bekanntheit.

Die Protestbewegung von 2011/2012 ist an zwei Punkten gescheitert: Erstens blieb sie auf die Großstädte beschränkt. Diese Schwäche scheint beseitigt. Und zweitens wurde die Forderung nach politischen Freiheiten nicht mit der sozialen Frage verbunden. Die stellt sich nach der Rezession der letzten Jahre noch viel stärker – aber Nawalny scheint noch nicht offen genug, um diesen Kampf gegen die Korruption um soziale Proteste zu erweitern. Das könnte aber der Durchbruch sein zu einer massiven oppositionellen Kraft im ganzen Land.

Welche Rolle spielt Nawalny aktuell?

Er ist das charismatische und auch einzige Gesicht der liberal-zentristischen Opposition. Es fällt auf, dass sowohl die rechten als auch die linken Parteien keine Rolle spielen. Nur Nawalny kann viele Menschen mobilisieren.

Wie macht er das?

Er hat bewusst das Thema Korruption gewählt, weil er da authentisch sein kann. Er kämpft seit 2010 gegen die Korruption in Staat, Justiz und Verwaltung. Das Thema macht die Mobilisierung einfach, fast jeder Bürger spürt die Alltagskorruption, im Umgang mit Behörden, der Polizei, aber auch an Schulen und Universitäten.

Zweitens versucht er, Wladimir Putin das patriotische Narrativ zu entreißen. Nawalny sagt: Ich bin der wahre Patriot, nicht der Präsident und seine Führungsriege, die das Land ausbeuten. Er hat auch seine Anhänger aufgerufen, mit russischen Fahnen zu den Demonstrationen zu kommen.

Davon abgesehen wirken die Proteste jung und dynamisch, Nawalny benutzt gerne sein Videoblog und soziale Medien – erklärt dieser Ansatz seinen Erfolg?

Das Marketing gehört dazu. Er wird gut beraten und baut ein Image als jungendlicher Herausforderer auf. Er ist 41, für die russischen politischen Verhältnisse noch sehr jung. Er versucht, eine Brücke zu diesen jungen Leuten zu schlagen, die keine Perspektive mehr in Russland sehen, die kritisieren, dass nicht genug in das Bildungssystem investiert wird.

Viele Freunde von denen, die auf die Straße gegangen sind, sind schon im Ausland. Seit Jahren gehen immer mehr junge und qualifizierte Leute weg.

Nawalny spricht sie in ihrer Sprache an, auf ihren Medienkanälen, so findet er zu denen, die nicht das staatliche Fernsehen schauen, die auf das Internet ausweichen, das weitgehend frei ist in Russland. Da kann die Regierung nicht mithalten, sie erweckt den Eindruck einer in die Jahre gekommenen Führungsriege, die weit weg ist vom Volk.

Und doch haben Sie getwittert, nur weil der Großteil der Demonstranten junge Leute sind, heiße das nicht, dass die Jugend systemkritisch eingestellt sein muss.

Ja, die neuen Proteste werden vor allem von jungen Menschen getragen. Nein, nicht alle Jugendlichen sind für die Proteste empfänglich. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Jugend nimmt die patriotische Mobilisierung von Wladimir Putin auf. Es ist nicht so, dass die Jugend als solche sich vom Staat entfremdet. Vor allem diejenigen aus der Mittelklasse sind allerdings regierungskritisch.

Allein in Moskau sollen 400 Demonstranten verhaftet worden sein, in St. Petersburg 300. Ein Zeichen dafür, dass die Gegenstrategie des Kremls Repression heißt?

Die Regierung steckt in einem Dilemma: Nawalny hat ja die Provokation gesucht und ist von der genehmigten Protestroute abgewichen. Aber je repressiver die Polizei agiert, je öfter sie Nawalny verhaftet, je mehr Anhänger vor dem Richter landen und Geldstrafen zahlen müssen, umso mehr könnte sich die Sache ausweiten. Die Leute werden dann in ihrer Meinung bestärkt: In Russland können wir uns nicht frei äußern.

Wenn die Regierung nicht reagiert, riskiert sie, dass sich bisher zögernde Unzufriedene auf die Straße trauen. Offenbar herrscht im Kreml derzeit die Auffassung, es sei besser, die Sache im Keim zu ersticken und die Leute abzuschrecken. Mal sehen, ob diese Strategie aufgeht.

Wie gefährlich können die Proteste für die Regierung sein, und kann Alexej Nawalny ein Konkurrent für Wladimir Putin werden?

Nach geltendem Recht kann Nawalny 2018 nicht einmal für das Amt des Präsidenten kandidieren, er ist vorbestraft. Aber vielleicht könnte der Kreml ein Interesse an einer Kandidatur haben: Dann wäre die Wahl umkämpfter, und die Beteiligung würde höher ausfallen. Bei den Wahlen zur Staatsduma 2016 lag sie bei 48 Prozent landesweit, in Moskau bei 33 Prozent.

Für Putin reicht es 2018 nicht, noch einmal gewählt zu werden, er braucht eine klare Legitimierung. Und das Risiko einer Kandidatur von Nawalny scheint Stand jetzt überschaubar für Putin, der Worst Case wäre ein zweiter Wahlgang.

Der Großteil der Russen steht also noch hinter Putin?

Wenn wir uns die Daten des eher oppositionellen Levada-Center anschauen, liegen seine Zustimmungsraten bei über 80 Prozent. Allerdings haben wir es mit Erhebungsschwierigkeiten zu tun, viele Befragte sagen nicht offen ihre Meinung.

Viele Bürger informieren sich auch nur über Staatsmedien, viele denken, es gebe eh keine andere Wahl als Putin. Dazu kommt, dass ein Teil derer, die Putin wählen, politisch apathisch und resigniert sind, die könnten von ihm auch nicht aktiv als Unterstützer mobilisiert werden.

Zum jetzigen Zeitpunkt würde Putin wohl 55 bis 65 Prozent der Stimmen bekommen. Das Potenzial von Nawalny liegt bei rund 25 Prozent, aber er hat noch ein Sichtbarkeitsproblem. In den Staatsmedien kommt er nicht vor, als Kandidat bei Präsidentschaftswahlen hätte er allerdings ein Recht auf Wahlwerbung.

Wenn die Führungsfigur der Proteste keine ernsthafte Konkurrenz für Putin ist, was kann aus Sicht der Demonstranten im besten Falle am Ende herauskommen?

Die Aktionen sind ein Hoffnungsschimmer für jene, die glauben, es hätte keinen Sinn zu protestieren. Die sehen: Die Jugend will sich nicht länger alles gefallen lassen. Das könnte die gut gebildete, städtische Mittelschicht anstecken und vielleicht die Basis bilden für eine politische Partei, die zu einem echten Herausforderer für "Einiges Russland" wird. Aber vermutlich noch nicht in Hinblick auf die Wahlen 2018.

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