In Georgien geht die Angst um. Zu der Unzufriedenheit mit der Regierung von Ministerpräsident Irakli Garibaschwili und gegen das Staatsoberhaupt, den Präsidenten Giorgi Margwelaschwili, gesellt sich die Furcht, die durch den anhaltenden Ukrainekonflikt geschürt wird. Vor einigen Tagen gingen Zehntausende auf die Straßen der Hauptstadt Tiflis und forderten den Rücktritt von Margwelaschwili und seinem Kabinett.

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Neben Korruptionsvorwürfen verurteilten die Demonstranten den scheinbar prorussischen Kurs der Regierung. Sie fürchten, Georgien könnte das nächste Ziel von Putins Imperialstrategie werden. Ganz unberechtigt ist diese Angst nicht. Russland hat bereits die beiden georgischen Regionen Südossetien und Abchasien nach deren Abspaltung 1992 offiziell anerkannt. Seither ist dort russisches Militär stationiert – eine selbst ernannte Friedenstruppe. In Südossetien sind es 19, in Abchasien sprechen Beobachter von 24 Militärbasen. International gelten sowohl beide Gebiete bis heute als Landesteile Georgiens. Die Ziele der Separatisten hat der Kreml damals unterstützt – und vielen Bürgern dort russische Pässe zugestanden. Dies machte sich Moskau 2008 zunutze, um im Georgienkrieg die Verteidigung russischer Bürger vorzuschieben. Seit Kurzem hält das Militär in den abtrünnigen Regionen wieder verstärkt Militärübungen ab. Ein neuer Militärflughafen wurde gebaut.

"Im Grunde könnten die russischen Soldaten bis Tiflis durchfahren, wenn sie wollten", sagt Gustav Gressel, Osteuropaexperte am Europäischen Rat für Auswärtige Beziehungen (ECFR) in Berlin, im Gespräch mit unserem Portal. "Das macht natürlich nervös. Und diese Angst der Menschen ist zu einem gewissen Teil auch berechtigt", sagt der Experte. Denn neben dem Ausbau der militärischen Aktivitäten in Südossetien und Abchasien stehe Russland auch in Kooperation mit Armenien.

In Gyumri hat Putin russische Truppen stationiert, ebenso in Yerevan, das über einen Militärflughafen verfügt. "Dort könnte es sozusagen eine zweite Front eröffnen", erläutert der Politikwissenschaftler. "Die militärische Situation Georgiens ist alles andere als rosig", betont Gressel. Dort könne man nur hoffen, dass der Kreml durch die anderen Brandherde mit den westlichen Sanktionen und dem Konflikt in der Ukraine abgelenkt sei.

Eröffnet Putin eine zweite Front?

Dennoch sei der Südkaukasus nicht "der Hauptstrang des Interesses Russlands", stellt Gressel klar. Wladimir Putin gehe es vor allem um die Ukraine. "Er will sie als Gesamtstaat in das russische Orbit bringen", vermutet der Experte. "Das wird auf absehbare Zeit die russischen Kräfte binden." Denn trotz des vereinbarten Waffenabzugs durch das zweite Minsker Abkommen halten die Auseinandersetzungen vor allem um Donezk an. Dieser Krieg sei zu groß, als dass Russland im Stande wäre, gleichzeitig eine zweite Auseinandersetzung einzugehen..

"Die Frage ist vielmehr, was mit Georgien passiert, sollte die Ukraine fallen." Deshalb spiele der russische Präsident auf Zeit. Mit anhaltendem Konflikt verschlechtere sich die ohnehin bereits prekäre wirtschaftliche Lage des Landes weiter: "Putin ist überzeugt, dass die Zeit für ihn arbeiten und die Ukraine kollabieren wird." Und dann könnte auch die Bedrohung für Georgien wachsen.

Deutlich kritischer sieht das Eugene Kogan von der Georgischen Stiftung für Strategische und Internationale Studien (GFSIS). Der israelische Politikwissenschaftler hat bis vor kurzem mehrere Jahre in Georgien gelebt. Die Bedrohung für Georgien hält er für real. Neben den Truppen in Armenien und den abtrünnigen Regionen Georgiens hat Putin mit der Annexion der Krim auch das Schwarze Meer unter seiner Kontrolle. Kogan meint: "Putin und seine Regierung haben einen sehr gut vorbereiteten Marschplan für Georgien, um das einzunehmen, was von dem Land noch übrig ist." Auch wenn Putin dies bestreite.

Im Kriegsfall wäre Georgien auf sich allein gestellt

Im Kriegsfall wäre das Land wohl auf sich allein gestellt, fürchtet der Experte. "Weder die Amerikaner, noch die Türkei und ganz sicher auch nicht die EU- oder die Nato-Mitgliedsstaaten werden eingreifen." Die Ukrainekrise zeige, dass Putin "jedwede Täuschung oder Trick nutzen kann, um in ein Land einzumarschieren und danach eine Erklärung dafür zu liefern. Das ist der Modus Operandi." Georgien sei schon deshalb strategisch wichtig für Russland, weil es ähnlich wie die Ukraine als Transitland für Öl und Gas in den Westen fungiert. Mit Georgien unter russischer Kontrolle könne der Kreml leicht auch Aserbeidschan zurück in seinen Einfluss bringen.

Hinzu kommt, dass der Einfluss russischer Medien in dem Land wächst. Kogan spricht von russisch-georgischen Gesellschaften, die seit der vergangenen Wahl unter der Regierung der Partei Georgischer Traum "wie Pilze aus dem Boden schossen". Ihre russische Propaganda preise die Eurasische Union – einen Zusammenschluss mehrerer osteuropäischer Länder zu einer Wirtschaftsunion nach dem Vorbild der EU - als Alternative zum "verräterischen" und "unverlässlichen" Westen an.

Denn unter dessen Sanktionen gegen Russland hat auch Georgien zu leiden. Die Währung Georgien – der Lari – verlor allein in den vergangenen vier Monaten über 30 Prozent seines Wertes. Denn die georgische Wirtschaft lebt vom Export – der zu großen Teilen nach Russland fließt. Georgische Gastarbeiter schickten von dort Geld zu ihren Familien, was mit dem Verfall des Rubels kaum noch möglich ist. "In einem solchen Klima klingt der russische Import georgischer Landwirtschaftsprodukte umso verlockender", glaubt Kogan. Politikwissenschaftler Gressel rechnet der russischen Propaganda in Georgien hingegen weniger Einfluss zu. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung verursacht. Sputnik-News auf Georgisch – das wird nicht funktionieren."

Zumal sich die Unzufriedenheit mit der Regierung vor allem um innenpolitische Aspekte drehe und diese alles andere als "pro-russisch" sei. Zwar wirft ihr der ehemalige Präsident Micheil Saakaschwili vor, "durch die Hintertür eine Annäherung zu Russland zu suchen", so Gressel. Tatsächlich versuche die Regierung jedoch, sich dem Kreml anzunähern, um dessen Misstrauen gegenüber Georgien nicht weiter zu schüren. "Das ist hochgradig naiv", so der Experte. "Russlands imperiale Geltungsabsichten kann ein kleiner Staat wie Georgien nicht kompensieren."

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