- Carsten Schneider ist Ostbeauftragter der neuen Bundesregierung.
- Der SPD-Politiker folgt in dem Amt auf Marco Wanderwitz von der CDU.
- Schneider will Klischees über den Osten ausräumen und sich um das Thema Lohngleichheit kümmern.
Herr Schneider, fühlen Sie sich schon ein bisschen verblödet?
Carsten Schneider: Wie bitte?
Als Sie 1998 in den Bundestag eingezogen sind, haben Sie gesagt, niemand solle "länger als zwölf Jahre im Bundestag bleiben, danach verblödet man". Sie sind nun schon mehr als 23 Jahre im Parlament.
Na ja, ich war damals gerade 22 Jahre alt und würde das heute natürlich nicht mehr so sagen. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich fühle mich weder verblödet noch politikmüde. Wie vor jeder Bundestagswahl habe ich auch dieses Mal genau überlegt, ob ich noch Lust und Leidenschaft für vier weitere Jahre habe. Die habe ich definitiv. Und dank der großen Unterstützung meiner Partei und der Wählerinnen und Wähler darf ich weitere vier Jahre für die Menschen arbeiten. Dass ich das jetzt auch als Staatsminister für den ganzen Osten machen darf, ist etwas ganz Besonderes.
Im letzten Bundestag waren Sie Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, in den Jahrzehnten davor haben Sie in diversen Ausschüssen gearbeitet. Als Ostbeauftragter dürften Sie nun einem breiteren Publikum bekannt werden. Macht Sie das nervös?
Nervös ist der falsche Ausdruck. Aber ich merke schon jetzt, dass man mit der neuen Funktion für viele Menschen einen anderen Stellenwert hat. Im Osten hat diese Position immer noch eine wichtige Bedeutung. Für mich ist das deshalb eine Ehre, aber auch eine Herausforderung. Mein Wort hat künftig ein anderes Gewicht. Als Staatsminister spreche ich für die gesamte Bundesregierung. Aber wenn ich die Verantwortung scheuen würde, hätte ich den Job nicht angenommen.
Sie wollen die Dinge klar beim Namen nennen, dabei aber niemanden beleidigen oder aufgeben, haben Sie kürzlich gesagt. Klingt nach einem Drahtseilakt in der Ost-West-Debatte.
Meine Erfahrung und meine Prägung werde ich natürlich in die Aufgabe einbringen. Ich bin 1976 in Erfurt geboren und ich kenne viele Missstände im Osten - und ebenso viele unwahre Klischees, die sich im Westen gegenüber dem Osten hartnäckig halten. Das werde ich klar ansprechen.
Ihr Vorgänger als Ostbeauftragter, Marco Wanderwitz von der CDU, hat in seinen letzten Monaten im Amt eine Menge klare Worte gefunden. Viele Menschen in Ostdeutschland seien nicht in der Demokratie angekommen, hat er gesagt, und Teilen der Bevölkerung eine Demokratieskepsis attestiert.
Das ist seine Meinung und die darf er äußern.
Bekommen hat er dafür nicht nur harte Kritik. Vor einigen Wochen wurde sein Wahlkreisbüro im sächsischen Zwönitz beschädigt.
Was ich absolut unmöglich finde und verurteilt habe.
Teilen Sie denn die Ansicht, dass viele Menschen im Osten nicht oder noch nicht in der Demokratie angekommen sind.
Nein, überhaupt nicht.
Wie haben Sie ganz persönlich die Wende erlebt? Sie waren damals 13, 14 Jahre alt.
Ich habe die Wende als großen Aufbruch erlebt. Es war großartig, plötzlich öffentlich sagen zu können, was einem nicht gepasst hat. Dass man im Zweifel auch demonstrieren gehen konnte, ohne Angst vor Repressalien haben zu müssen. Es war eine Zeit, in der es teilweise keine Regeln gab. Das alte System war zusammengebrochen und das neue noch nicht etabliert. Viele haben das aber auch als Verunsicherung oder Bedrohung empfunden.
Gut 30 Jahre später gehen insbesondere in Sachsen und Thüringen Menschen “spazieren”, sehen ihren Protest als legitime Nachfolge der Montagsspaziergänge und erklären, dass sie sich unfrei fühlen. Was sagen Sie denen?
Ich halte es für absolut geschichtsvergessen, die heutigen Corona-Proteste mit der friedlichen Revolution im Herbst 1989 in Zusammenhang zu bringen. Wenn ich in meinem Wahlkreis in Erfurt oder Weimar bin, sage ich das den Leuten auch genau so. Ohnehin habe ich das Gefühl, dass Corona für viele Menschen nur ein Anlass ist. Der Grund liegt häufig woanders.
Wie meinen Sie das?
Für meine Generation war die Wende der Weg in die Freiheit. Aber gerade für Menschen, die damals in der Mitte ihres Lebens waren, haben sich viele Verheißungen nicht erfüllt. Es gab tiefe Einschnitte und Brüche in Lebensläufen. Jahre harter Arbeit in der DDR schienen plötzlich kaum mehr etwas wert zu sein. Viele Menschen im Osten fühlten sich vergessen und alleine gelassen. Als Ostbeauftragter will ich auch ihnen eine Stimme geben und dafür arbeiten, dass sie sich wieder mehr geschätzt fühlen.
Wird nicht einfach, eine jahrzehntealte Kluft innerhalb einer Legislaturperiode zu schließen.
Das stimmt. Aber ich will einen Dialog anstoßen zwischen Ost und West. Mir fehlt da bis heute manchmal die Neugierde aufeinander. Es ist doch so: Jeder Ossi war schon mal im Westen, aber längst nicht jeder Wessi war schon mal im Osten. Viele Westdeutsche haben Nachholbedarf, was innerdeutsches Reisen angeht. Und viele Ostdeutsche sollten, wie der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer vorschlug, auch mal – wieder – ins Ruhrgebiet. Das relativiert dann doch einiges.
Viele Ossis wünschen sich eine stärkere Repräsentation in der ersten Reihe der Politik. In der Ampelkoalition aber ist ein Osnabrücker Kanzler und von 16 Ministerien werden gerade einmal zwei von Menschen aus Ostdeutschland geleitet: Steffi Lemke von den Grünen ist Umweltministerin, Ihre Parteikollegin Klara Geywitz Bauministerin.
Im Kabinett ist der Osten gut vertreten. Bei den Positionen in der Verwaltung ist aber noch deutlich Luft nach oben, da gebe ich Ihnen recht. Diese Lücke bei der Repräsentation gibt es aber nicht nur in der Bundesverwaltung, sondern auch in den Hochschulen, der Justiz, der Bundeswehr, den Medien und Unternehmen. Ich werde darauf immer wieder aufmerksam machen und mich dort, wo es mir möglich ist, für Veränderungen einsetzen.
Welche Themenbereiche wollen Sie als Ostbeauftragter ins Zentrum ihrer Arbeit stellen?
Lohngleichheit ist für mich das zentrale Thema. Nur wo gute und faire Löhne gezahlt werden, wollen Menschen gerne leben. Da hängt der Osten in manchen Gegenden auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch deutlich hinterher. Der Mindestlohn von zwölf Euro, den wir im Oktober gesetzlich anheben, wird im Osten für mehr als 20 Prozent eine deutliche Lohnerhöhung bringen. Das ist aber ja nur die Lohnuntergrenze. Wir brauchen eine höhere Tarifbindung im Osten. Ich unterstütze die Beschäftigten, wenn sie eine bessere Bezahlung fordern. Sie müssen aber auch selbst etwas dafür tun und zum Beispiel in eine Gewerkschaft eintreten. Im Osten gibt es noch zu viele Firmen, in denen mit Kündigung gedroht wird, sobald ein Betriebsrat gegründet werden soll. Da darf nicht sein und muss sich schnell ändern.
Die AfD erhält in den neuen Bundesländern viel Zuspruch, ebenso noch deutlich radikalere Gruppen wie die Freien Sachsen. Hat der Osten ein Rechtsextremismusproblem?
Deutschland hat ein Rechtsextremismusproblem. Ob der NSU aus Jena, die Morde von Hanau oder der Anschlag auf Walter Lübcke. Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus sind die akutesten Bedrohungen unserer Demokratie. Und diese Bedrohung ist in Ostdeutschland stärker und der demokratische Konsens fragiler.
Sie weichen der Frage aus.
Nein. Ich wehre mich nur gegen Klischees, denn Rechtsextremismus gibt es auch im Westen. Seine Agitatoren - Höcke, Weidel oder Gauland - kommen sogar häufig von dort. Für mich ist klar, dass wir Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus mit aller Macht entgegentreten müssen. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Die Gesellschaft im Osten war lange sehr homogen. Aber es geht voran, wenn auch manchmal langsamer, als ich es mir wünschen würde. In meiner Heimatstadt Erfurt sind zum Beispiel in den vergangenen Jahren viele Menschen aus Polen und Tschechien zugezogen. Die meisten Leute haben begriffen: Zuwanderung ist gerade im Osten wichtig, um den Arbeitsmarkt und das Leben am Laufen zu halten.
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