Nach den Krisen der vergangenen Jahre haben viele Bürger das Vertrauen in die Europäische Union verloren. In Polen stellen seit Ende letzten Jahres die Nationalkonservativen die Regierung. Europa-Experte Markus Kotzur hält die Entwicklungen für gefährlich.
In den wenigen Wochen seit ihrem Antritt hat die neue nationalkonservative Regierung in Polen bei den europäischen Demokraten für Alarmstimmung gesorgt. Handstreichartig wurden Instrumente des Rechtsstaats und die Pressefreiheit beschnitten. Am Samstag demonstrierten Zehntausende Menschen gegen das neue Mediengesetz. Sie fürchten, dass Rundfunk und Fernsehen zu Propagandainstrumenten der Regierung werden.
Schon kurz nach der Wahl im November ließ Ministerpräsidentin Beata Szydlo die Europaflagge von der Pressebühne entfernen. Damit setzte die neue Regierung in Warschau ein deutliches Signal gegen die EU-Partner.
Entwicklung in Polen erschreckt die EU
Das blieb auch in Brüssel nicht unbemerkt. Am 13. Januar will die Europäische Kommission über den Umbruch in Polen beraten. EU-Kommissar Günther Oettinger hat angekündigt, den Rechtsstaatsmechanismus zu aktivieren. "Man muss der Regierung Kaczynski sehr, sehr klar machen, dass hier der Rubikon überschritten worden ist und dass dies nicht ohne Konsequenzen bleibt", sagt auch Markus Kotzur, Experte für Europäische Integration am Europa-Kolleg Hamburg. Dabei hat gerade Polen wirtschaftlich so stark vom EU-Beitritt profitiert wie kaum ein anderes osteuropäisches Land. Doch die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Wer die Vorteile genießen wolle, müsse auch die grundlegenden Werte beherzigen, findet Kotzur: "Wer ausschert, kann auch keine Solidarität erwarten."
Europaskepsis wächst in allen Mitgliedsländern
Unterstützung bekommt die polnische Regierung aus Ungarn. Der ebenfalls nationalkonservative Ministerpräsident Viktor Orbán will EU-Maßnahmen gegen Polen verhindern. Europa-Experte Kotzur glaubt, dass die Sorge um die nationale Souveränität in den neuen Mitgliedsländern vielleicht noch größer ist als in den alten: "Alle Beitrittsländer aus Osteuropa haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit mühsam erstritten."
Ein Erstarken von rechtspopulistischen Bewegungen lassen sich aber nicht nur in Osteuropa, sondern in allen Ländern beobachten. "Die Europaskepsis scheint mir in vielen Mitgliedsstaaten ausgeprägter als noch vor ein paar Jahren", sagt Kotzur. "Das ist eine große Belastungsprobe und Herausforderung für die Europäische Union."
Als einer der wichtigsten Ursachen der heutigen EU-Krise sieht Kotzur die Finanzkrise, die 2008 die europäische Wirtschaft schwer erschüttert hat. Viele Länder haben sich bis heute nicht von den Folgen erholt und kämpfen mit ökonomischen Schwierigkeiten. "Das ist der klassische Nährboden für extremere politische Positionen, sei es rechts oder links", meint der Wissenschaftler. Bei vielen herrsche der Eindruck vor, unter den Fehlern der Anderen zu leiden.
Krisen wecken "Sehnsüchte nach dem Nationalstaat"
Das krisenreiche Jahr 2015 hat viele Menschen zusätzlich verunsichert. Nach den Terroranschlägen in Frankreich, dem ökonomischen Drama in Griechenland und der Flüchtlingssituation haben sie das Vertrauen in Europa verloren. "Das weckt Sehnsüchte nach dem kleinen überschaubaren Raum des Nationalstaats, wo man alles selber macht", meint Kotzur. "Es ist völlig naiv zu glauben, man könne sich gegen Terrorismus abschotten." Das gelte auch in der Weltwirtschaft: "Wenn Europa nicht geeint auftritt, wird es gegen die großen Wirtschaftsmächte aus Asien, den USA oder auch Lateinamerika keine Chance mehr haben", warnt der Wissenschaftler.
Die Union muss sich wieder handlungsfähig zeigen
Die Europäische Politik ist jetzt gefragt, die Bürger wieder davon zu überzeugen. "Sie muss den Bürgern klar machen, dass das europäische Einigungsprojekt die nationale Souveränität nicht zerstören, sondern bereichern will", fordert Kotzur. Brüssel dürfe nicht nur als "bürokratischer Wasserkopf" wahrgenommen werden. In Zeiten der Krise werde oft vergessen, in wie vielen Bereichen die Europäische Union sehr gut funktioniert, zum Beispiel im Binnenmarkt. Die Union müsse sich handlungsfähig zeigen, auch beim Schutz der EU-Außengrenzen. "Europa wird von vielen als Krankheitsursache angesehen und nicht als Heilmittel", sagt der Europa-Experte.
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