Tel Aviv - Bei mit den größten Massenprotesten in Israel seit Monaten haben Zehntausende Menschen ein Ende der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und die Freilassung der im umkämpften Gazastreifen festgehaltenen Geiseln gefordert. "Lebendig, lebendig - und nicht in Leichensäcken", skandierten Demonstranten in der Küstenmetropole Tel Aviv.

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Die Organisatoren sprachen nach örtlichen Medienberichten von rund 150.000 Teilnehmern. Es sei die größte Demonstration in Tel Aviv seit dem Terrorüberfall der islamistischen Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres in Israel gewesen. Auch in Jerusalem, Haifa, Beerscheba und anderen Orten gab es Massenproteste gegen die Führung von Netanjahu. Die Menschen forderten dabei lautstark Neuwahlen.

Juval Diskin, ehemaliger Leiter des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, verurteilte die Regierung bei der Kundgebung in Tel Aviv und bezeichnete Netanjahu als "den schlimmsten und am meisten gescheiterten Ministerpräsidenten in der Geschichte des Staates", wie die "Times of Israel" berichtete.

Diskin warf der Regierung ein verfehltes Kriegsmanagement, "die Lüge vom 'totalen Sieg', die totale Flucht vor der Verantwortung" und die "Zerstörung unserer strategischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten" vor. Netanjahus Regierung verpasse "jede Gelegenheit zur Rückführung unserer entführten Brüder und Schwestern".

Israels Verteidigungsminister in den USA erwartet

Das "Wall Street Journal" hatte jüngst berichtet, dass die Zahl der noch lebenden Entführten bei nur etwa 50 liegen könnte. Offiziell befinden sich noch rund 120 Geiseln in Gaza. Die Demonstranten warfen Netanjahu vor, sich den Forderungen seiner extremistischen Koalitionspartner zu beugen und einen Deal zur Freilassung der Geiseln zu hintertreiben. Einige Minister sind gegen ein Abkommen mit den Islamisten, da es auch eine Waffenruhe und die Entlassung palästinensischer Häftlinge aus Israels Gefängnissen vorsehen würde.

Derweil wird Israels Verteidigungsminister Joav Galant zu Gesprächen beim wichtigsten Verbündeten USA erwartet. Er wolle von heute bis Dienstag in Washington mit ranghohen Vertretern des Pentagon und des US-Außenministeriums zusammentreffen, berichtete die "Jerusalem Post".

Galants US-Reise erfolgt, nachdem Israels Regierungschef Netanjahu mit einem Video, in dem er die US-Regierung wegen einer zurückgehaltenen Waffenlieferung mit harschen Worten angegriffen hatte, für eine erneute Krise in den Beziehungen zur US-Regierung von Präsident Joe Biden gesorgt hatte.

Verteidigungsminister Joav Galant bekräftigte vor seiner Abreise in die USA, Israel sei "auf jeden Einsatz vorbereitet, der erforderlich sein könnte, im Gazastreifen, im Libanon und in anderen Gebieten". Galant sagte nach Angaben seines Büros vom Sonntag ferner: "Unsere Beziehungen mit den USA sind wichtiger denn je. Unsere Treffen mit US-Repräsentanten sind entscheidend in diesem Krieg."

Vorwürfe gegen Israels Polizei

Bei den Massenprotesten gegen Netanjahus Regierung in Tel Aviv kam es laut örtlichen Medienberichten zu Rangeleien mit der Polizei, mehrere Personen seien festgenommen worden. Polizeiminister ist der rechtsextreme Politiker Itamar Ben-Gvir. Berittene Beamte hätten versucht, mit ihren Pferden einige der Demonstranten auseinanderzutreiben.

Die Gewalt der Polizei bei den Demonstrationen habe "alle Grenzen überschritten", wetterte der neue Vorsitzende der oppositionellen Arbeitspartei, der frühere Vize-Generalstabschef Jair Golan, auf der Plattform X. Die Polizei dürfe nicht "zu einem Werkzeug in den Händen der korrupten und gescheiterten Regierung" werden, schrieb er.

X-Beitrag Golan

Demonstranten erinnern an Geburtstag entführter Soldatin

Golan gilt seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober als Held im Land. Er hatte sich auf eigene Faust ins Gefahrengebiet begeben und half dort vielen Zivilisten, von einem Festival zu fliehen, das die Terroristen angriffen. Der Terrorüberfall war der Auslöser des Krieges.

Bei der Kundgebung in Tel Aviv erinnerten viele Menschen an den Geburtstag einer entführten Soldatin, die in Geiselhaft 20 Jahre alt geworden ist. Viele zeigten Plakate mit dem Gesicht der Israelin. Ihre Eltern forderten in einer Rede ihre Freilassung. Aufnahmen der Organisatoren zeigten die Mutter, wie sie während des Protests in Tel Aviv weinte.

Am Tag ihrer Entführung von einem Militärstützpunkt hatte die Hamas Aufnahmen verbreitet, auf denen die junge Israelin mit gefesselten Händen und blutverschmierter Hose zu sehen ist. Vor rund einem Monat wurde zudem ein Video veröffentlicht, das sie und vier weitere Soldatinnen während der Entführung verängstigt, verletzt und teilweise blutüberströmt zeigt. Die Frauen waren im Grenzgebiet zum Gazastreifen als Späherinnen der Armee im Einsatz.

Seit Monaten laufen Bemühungen der Vermittler USA, Katar und Ägypten, Israel zu einer Waffenruhe und die Hamas zur Freilassung der Verschleppten im Austausch gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen zu bewegen - bisher ohne Erfolg. Netanjahu wirft der Hamas eine unnachgiebige Haltung vor und macht sie für die Stagnation bei den indirekten Verhandlungen verantwortlich.

Die Hamas wiederum sieht Israel in der Pflicht. Die Hauptforderungen der Islamisten sind ein sofortiger Waffenstillstand sowie ein vollständiger Rückzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen.

USA ziehen Flugzeugträger "Eisenhower" aus Rotem Meer ab

Nach einem mehrmonatigen Einsatz als Reaktion auf den Hamas-Angriff gegen Israel haben die USA den Flugzeugträger "Dwight D. Eisenhower" aus dem Roten Meer abgezogen. Das Schiff und der dazugehörige Verband befänden sich auf dem Rückweg in die USA, teilte das Regionalkommando Centcom mit.

Ersetzt werde die "Eisenhower" durch den Flugzeugträger "Theodore Roosevelt" und dessen Verband, der sich den Angaben nach noch im Indopazifik befindet und kommende Woche in der Region ankommen soll.

Der Einsatz erfolgt im Rahmen der multinationalen Sicherheitsinitiative "Operation Prosperity Guardian". Sie soll die Sicherheit und die freie Schifffahrt im Roten Meer und Golf von Aden sicherstellen. Dort verläuft eine der wichtigsten Schifffahrtsrouten für den Welthandel. In den vergangenen Monaten hat die Huthi-Miliz im Jemen dort immer wieder zivile Frachtschiffe attackiert. Die Miliz agiert nach eigenen Angaben aus Solidarität mit der Hamas in Gaza.

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