Hubert Aiwanger fühlt sich von der Presse verfolgt, die AfD von allen anderen Parteien und Donald Trump ist das Opfer von allen, die nicht für ihn sind. Die Opferrolle ist kein Zeichen der Schwäche mehr, sondern ein Banner, das Politiker inzwischen vor sich hertragen, um Anhängern zu gewinnen. Aber wie konnte es dazu kommen?

Ein Interview

Spätestens als Angela Merkel 2015 die Worte "Wir schaffen das" ausgesprochen hatte, war sie für einige im Land als Kanzlerin nicht mehr tragbar. Mit positiven Zukunftsbildern zu werben, war für viele nicht mehr mit ihrer persönlichen Sicht auf die Welt vereinbar. Die "German Angst", die undefinierbare Angst vor sozialem Abstieg, Überfremdung und Wohlstandsverlust hatte sie schon übermannt. Ihre neuen Propheten waren Schwarzmaler und Apokalyptiker.

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Genau dieser Gesinnungwandel veranlasste den Journalisten und Schriftsteller Matthias Lohre 2019 sein Buch "Das Opfer ist der neue Held" zu veröffentlichen. Darin erklärt er, wie es Politiker immer häufiger schaffen, sich als Opfer zu verkaufen, überall das Schlechte zu sehen und damit auch noch Anhänger zu finden. Ein Trend, der sich aktuell so deutlich zeigt, wie selten zuvor. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt Lohre, warum es angesagt ist, ein Opfer zu sein und was es bedarf, Menschen wieder aus ihrem Opferstatus herauszuholen.

Gruppen beziehen heute aus ihrem Opferstatus Ansprüche

Herr Lohre, warum sehen sich viele Menschen heute so gerne als Opfer?

Lohre: Es gibt immer weniger, worauf sich Menschen in unserer Gesellschaft einigen können. Aber was ein Opfer ist, schon. Es gibt einen Schwächeren, der einem Stärkeren unterlegen ist. Wenn sich jemand als Opfer beschreibt, haben wir also eine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Das gibt Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt.

Dieses Gut-und-böse-Denken gab es schon immer. Was hat sich geändert, dass "Opfer-Sein" heute nicht mehr als Schwäche, sondern als erstrebenswert gilt?

Es gab immer Gruppen, die sich als Opfer bezeichnet haben. Aber nie Gruppen, die allein aus ihrem Opferstatus Ansprüche bezogen haben. Früher haben sich Leute auch als Opfer gesehen, aber ihr höchstes Ziel war die Überwindung dieses Opferstatus.

Wir sehen heute häufig Menschen, die ihr komplettes Selbstwertgefühl aus ihrem Opferstatus ziehen. Und würde ihnen jemand diesen Status absprechen, dann würden sie einen großen Teil ihres Selbstwerts verlieren. Deshalb wollen viele Menschen lebenslang als Opfer gesehen werden. Das ist etwas recht Neues.

Wenn man Menschen aber schon als Opfer anspricht, dann muss man selbst auch nichts verbessern.

Matthias Lohre
Matthias Lohre
Autor und Journalist Matthias Lohre. © Denise Sterr

Wenn wir jetzt die Brücke zur Politik schlagen – suchen sich dann solche Menschen häufig Politiker, die genau ihren Opferstatus nähren und verkörpern?

Genau. Heute dominieren nicht mehr die positiven Zukunftsbilder, sondern Politiker werden häufig dafür bejubelt, dass sie die schlimmsten Befürchtungen der Wählenden bestätigen. Also wie ein Björn Höcke, der eine Apokalypse an die Wand malt. Es geht darum, möglichst schauerlich die Welt zu zeichnen, um dadurch Menschen emotional zu bewegen und zur Wahlurne zu bringen.

Warum nicht ein positives Bild zeichnen?

Es ist viel schwerer geworden, Menschen so anzusprechen, denn ein positives Angebot heißt auch immer Veränderung. Und Veränderung kann Angst auslösen. Wenn man Menschen aber schon als Opfer anspricht, dann muss man selbst auch nichts verbessern. Man muss nur die Ängste der Menschen aufgreifen.

Heute zählt viel mehr das Bauchgefühl

Dieses Opferdenken scheint besonders Menschen an den Rändern des politischen Spektrums anzusprechen. Linke und rechte Politiker nutzen gerne das Opfer-Narrativ. Warum findet sich dieses Konzept kaum in der Mitte der Gesellschaft?

Es gibt in der Mitte genug Menschen, die sich nicht als Opfer sehen und die positive Veränderungen wollen. Sicher gibt es immer die Möglichkeit, Menschen mit Angst anzusprechen. Aber in der Mitte der Gesellschaft kann man mehr Leute ansprechen, die das Gefühl haben, sie können ihr Leben zum Besseren verändern.

Und bei den Parteien?

Bei Teilen der Volksparteien ist das differenziert. Friedrich Merz ist beispielsweise ein anderer Parteichef als Angela Merkel es war. Er vertraut mehr auf eine angstauslösende Ansprache. Merz ist allerdings auch Oppositionspolitiker, Merkel war damals Kanzlerin.

Bleiben wir bei Friedrich Merz. Seine Reden erzeugen häufig Angst bei den Zuhörern. Ihm wird deshalb gelegentlich die Verwendung von AfD-Rhetorik vorgeworfen. Die profitiert aber von der Opfersprache – Merz nicht, warum?

Die AfD macht es glaubwürdiger. Leute, die noch nie ein Wahl- oder Regierungsamt innehatten, können sich überzeugender als Gegner des Systems darstellen. Anders als der CDU- und Unionsfraktionsvorsitzende Friedrich Merz, der seit Jahrzehnten im Geschäft ist. Er wird deshalb aus Sicht von AfD-Wählenden als Teil des Systems wahrgenommen.

Zur Opferrhetorik gehören häufig Übertreibungen oder sogar Lügen, die teilweise sehr leicht als solche identifiziert werden können. Wie kann es sein, dass sich solche Aussagen dennoch verfangen?

Menschen reagieren viel weniger auf Argumente, als wir das lange gedacht haben. Es zählt viel mehr das Bauchgefühl. Wenn die Menschen die Wahl haben zwischen einem guten Argument, das sie von einer hergebrachten Meinung abbringen soll und einem schlechten Argument, das ihre Meinung bestätigt, dann wählen sie tendenziell eher das schlechte Argument.

"Jeder kann sich über ein Smartphone eine eigene Welt schaffen"

Das klingt wenig ermutigend.

Häufig haben Ängste, die Menschen in ihre Opferhaltung treiben, wenig mit Politik oder mit realen gesellschaftlichen Situationen zu tun – dafür aber viel mit prägenden Kindheitserfahrungen.

Was meinen Sie damit?

Wer früh erfahren hat, dass seine Wünsche nicht zählen, wer nicht gesehen wird, der wird im späteren Leben dieses Gefühl nicht los. Erst recht nicht, wenn er oder sie das nicht reflektieren kann oder will. Dieser Mensch wird dann nach Menschen suchen, die dieses Gefühl der Frustration, des Ausgegrenzt-Seins, ansprechen. Das kann eben auch politische Formen annehmen. Beispielsweise ist in Deutschland die Ausländerfeindlichkeit dort am größten, wo am wenigsten Ausländer leben – in großen Teilen Ostdeutschlands.

Diese Faktenresistenz und dieses "Auf-sein-Bauchgefühl-hören" hat in den vergangenen Jahren immer weiter zugenommen. Sehen Sie das auch so?

Das ist tatsächlich so und es wird immer schlimmer. Jeder kann sich über ein Smartphone eine eigene Welt schaffen. Das sieht man besonders bei Social Media, dass dort Blasen entstehen, die kaum noch miteinander kommunizieren.

Wer wenig hat, tritt oft nach unten, um den eigenen Status abzusichern. Und unten sind im Zweifelsfall Asylsuchende.

Matthias Lohre

In Ostdeutschland erzielt die AfD Rekordumfragewerte mit dem Schüren von Ängsten und rechtsextremen Aussagen. Und Sie erwähnten, dass viele Menschen ihre Opferhaltung aus der Kindheit ins Erwachsenenleben übernommen haben. Sehen wir hier also noch die Nachwirkungen eines Lebens in der ehemaligen DDR?

In der Tat. Selbstverständlich ist in der Bundesrepublik auch nicht alles richtig gelaufen, aber es gab eine 68er-Bewegung, es gab einen wirtschaftlichen Aufschwung, der vieles ermöglicht hat, der eine neue Offenheit geschaffen hat. Und es gab Zuzug aus anderen Ländern, der das Land liberaler gemacht hat.

All das gab es in der DDR nicht. Dort gab es viele Traumata aus der Vergangenheit, von den Weltkriegen bis zur Besetzung durch die Rote Armee. Das sind alles schreckliche Erfahrungen. Nur: Über die wurde in der DDR noch weniger gesprochen als in Westdeutschland. Das hat zu einer Verhärtung bei vielen Menschen geführt. Und wer kein Mitgefühl mit sich selbst entwickeln kann, der kann auch kein Mitgefühl mit anderen entwickeln.

Vor allem im Osten bestärkt die AfD dieses Gefühl. Diese seltsame Mischung aus Unterlegenheitsgefühl einerseits und Auserwähltheitsglauben – also die wahren Deutschen zu sein – andererseits.

Menschen müssen wieder selbstwirksam sein

Jetzt schieben sich die etablierten Parteien gegenseitig die Schuld zu und fordern Maßnahmen, um die Umfragewerte der AfD zu halbieren. Aber wie soll das gelingen?

Halbieren kann man die Werte der AfD wahrscheinlich nicht. Aber man kann sie von teilweise über 30 Prozent auf 20 Prozent drücken. So hoch ist der Anteil von "Rechtswählern" in anderen europäischen Ländern. Das schafft man beispielsweise dadurch, indem wirtschaftlicher Aufschwung auch bei den Menschen ankommt. Oder sie sich wohler in ihrer Haut und weniger bedroht in ihrem Status fühlen. Denn es ist doch so: Wer wenig hat, tritt oft nach unten, um den eigenen Status abzusichern. Und unten sind im Zweifelsfall Asylsuchende.

Wie kann man also Menschen und ihre Ängste erreichen, wenn nicht mit Fakten?

Durch das, was uns alle weit mehr beeinflusst, als wir oft wahrnehmen: persönliche Kontakte. Denn Menschen lassen nicht von ihren Ansichten ab, weil irgendjemand sie ermahnt. Das bestärkt sie eher im Gefühl, unverstanden zu sein. Besser ist es, mit ihnen ins Gespräch zu kommen: beim Bäcker, am Fußballplatz. Sie brauchen Menschen in ihrem Umfeld, die ihnen vermitteln können: "Ich sehe und verstehe dich, aber was du da behauptest, stimmt so nicht." Im besten Fall lernen diese Menschen, selbstwirksam zu sein – häufig zum ersten Mal in ihrem Leben. Wer sein Lebensumfeld verbessert, etwa im Sportverein oder in einer Partei, der fühlt sich nicht so leicht als Opfer.

Das trifft aber bei Weitem nicht auf alle zu.

Wer sich einfach zurückgezogen und keinen Kontakt zur Außenwelt hat – außer über das Internet, den kann man eigentlich nicht mehr erreichen. Diese Menschen haben sich eingerichtet in einer Erzählung, in der sie schuldlosen Opfer sind. Wer daran rüttelt, spürt ihren Groll, ja Hass.

Das heißt, die Politik kann gar nichts machen, um auch diese Menschen zu erreichen?

Die Fragestellung klingt in meinen Ohren so, als sei die Politik ein Produkt, das man anbieten muss. Und wenn es angenehm verpackt ist, werden es die Leute schon kaufen. Aber so funktioniert das nicht.

Wer sich beispielsweise im Ortsverein einer Partei engagiert, der kann das Gefühl von Selbstwirksamkeit wieder bekommen. Das ist auch Politik. Es müssen auch nicht unbedingt Parteien sein. Auch soziale Organisationen, etwa ein Heimatverein, können die Verhältnisse vor Ort verbessern. Das bringt viel mehr als Wahlslogans oder Ansprachen des Bundeskanzlers. Denn das ist alles zu weit vom Alltagsleben vieler Menschen entfernt.

Auch im linken Spektrum gibt es Opfer

Wir haben über das Freund-Feind-Schema bei Rechten und deren Opferhaltung gesprochen. Wie sieht es auf der politisch linken Seite aus – gibt es das da auch?

Klar, auch Linke können sich als Opfer sehen. Grundsätzlich ist das Ziel linker Politik, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Gleichberechtigung herzustellen. Paradoxerweise werden dabei aber mitunter besonders stark Unterschiede betont. Man könnte sagen: Teile der Linken konstruieren immer neue Untergruppen, die doch sozial benachteiligt seien – und die ihre Hilfe bräuchten.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Wenn man etwa sagt, wir müssen uns für Transgender-Personen einsetzen, dann finde ich das wunderbar. Ich halte es jedoch für gefährlich, wenn dabei in Gut und Böse unterschieden wird. Nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Dann werden häufig andere Meinungen niedergeschrien, oder dem Gegenüber wird Sexismus oder Rassismus vorgeworfen. Das dient nicht der Sache und ist Wasser auf die Mühlen der Gegner.

Wir haben viel über Opfer gesprochen, über immer mehr Gruppen, die sich abspalten und nicht versuchen, Teil der Gesellschaft zu werden. Gibt es keinen Ausweg?

Es gibt die Möglichkeit, die Opferhaltung aufzubrechen. Doch es führt kein Weg daran vorbei, die schmerzenden Erfahrungen aus der eigenen Kindheit und aus früheren Generationen anzugehen. Dadurch lässt sich auch diese "German Angst", also diese permanente Lebensangst vieler Menschen, die so wenig mit der realen Situation zu tun hat, beheben. Also positiv formuliert: Um die Opferhaltung zu durchbrechen, müssen wir miteinander reden!

Über den Gesprächspartner

  • Matthias Lohre, 48, absolvierte ein Geschichts- und Anglistik-Studium an der Universität Köln. Er schloss eine Redakteursausbildung an der Berliner Journalisten-Schule ab und ist Mitgründer des Journalistenbüros Freie Redaktion in Berlin. Mehr als neun Jahre arbeitete er als Reporter, Parlamentskorrespondent und Kolumnist der taz. Als Autor historischer Rekonstruktionen schrieb er für Geo Epoche, P.M. History und Zeit Geschichte.
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