Statt über Jamaika-Koalitionen zu grübeln, wollen die Grünen sich in Sacharbeit und den Europa-Wahlkampf stürzen. Ihr "Arbeitsparteitag" in Leipzig verrät trotzdem viel darüber, was das Umfragehoch und der Gedanke an die Macht mit der streitlustigen Partei machen.
Am Ende wird es noch einmal laut. "We will rock you!", ruft
Habeck spricht von der "Orientierungslosigkeit nach der Zeit der Volksparteien", in der es nun Aufgabe der Grünen sei, "visionäre Ziele" fest im Blick zu haben und "breite Allianzen" zu schmieden.
Er erwähnt die jüngste Umfrage, bei den Frauen sind sie stärkste Kraft. Habeck und Co-Parteichefin
Kandidatenwahl für Europaliste
Umfragen, Koalitionen, das sind offiziell nicht die Themen der Grünen in Leipzig. Drei Tage lang haben sie über ihre Europawahlprogramm beraten und 40 Kandidaten für die Europaliste gewählt.
Lehren aus dem Parteitag
Der erste Parteitag für das neue grüne Spitzenduo verläuft ohne Pannen. Nicht selbstverständlich für so einen Drahtseilakt: Die Grünen stehen glänzend da. Aber das politische System wackelt - und wo sie darin ihren Platz haben, ist offen.
Sie müssen beweglich bleiben und doch so klar, dass die vielen neuen Anhänger nicht gleich wieder abwandern. Das ist in Leipzig zwar gelungen. Es wurde aber auch deutlich, wo die Fallstricke lauern.
1. Bitte nicht abheben - Traumumfragen sind auch eine Last
Im Januar wählten die Grünen Habeck und Baerbock an die Parteispitze - und berauschten sich an Aufbruch, Einigkeit, Hoffnung. Seitdem geht es aufwärts in Wahlen und Umfragen. Trotzdem bemühen sich die Grünen nach Kräften, es mit der Freude nicht zu übertreiben.
Kommentare wie "NOCH nicht im Kanzleramt" von Claudia Roth oder "24 Prozent - es macht gerade richtig Spaß, Grüne zu sein" von EU-Kandidatin Hannah Neumann bleiben die Ausnahme. Ernsthaft bei der Sache bleiben, so will Habeck auch den Auftritt Igor Levits gedeutet wissen: "Kein We-are-the-Champions-Gebimmel, stattdessen stecknadelfallstill".
2. Bitte keine Störfeuer - Die Einigkeit ist brüchig
Das Timing passt. Am Morgen der Asyldebatte spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann von "Männerhorden", die man "in die Pampa" schicken solle. Nicht auf dem Parteitag, dem er aus privaten Gründen fernbleibt, sondern in einem Interview.
Die Parteispitze schaltet auf Krisenkommunikation, kritisiert die Ausdrucksweise, deutet Kretschmanns Vorstoß aber als Bestätigung der grünen Kritik an "Ankerzentren", in denen Asylsuchende konzentriert untergebracht würden. Nur: Davon hat der Baden-Württemberger nicht gesprochen. Zitat vom linken Parteiflügel: "Ich kotze."
Apropos Parteiflügel. Es gebe nur noch einen "europäischen Flügel", sagt Baerbock. Die Listenwahlen zeigen allerdings, dass das Wunschdenken ist. Linke und Realos fördern "ihre" Kandidaten, und dass die Europaliste ziemlich links ist - Ex-Parteichef Reinhard Bütikofer ist auf Platz vier der erste Realo - gefällt nicht allen. Inhaltliche Konflikte werden dagegen kaum offen ausgetragen.
Die kontroversen Anträge sind meist vorab wegverhandelt oder übernommen. So kommen Themen wie der "Klimapass" für Menschen, die vor den Folgen des Klimawandels fliehen, oder Bedingungen für Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht erst größer auf die Parteitagsbühne.
3. Bitte keine Wessi-Partei - Der Ost-Wahlkampf hat begonnen
Klar geht es um Europa. Aber auch um drei andere Wahlen: Die der Landtage in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst 2019.
Angesichts ihrer Wahlergebnisse im Osten können die Grünen kaum früh genug anfangen, um Wähler zu buhlen. "Der andere Osten - stark und bunt" steht auf einem Banner. Flyer werben für "Wahlkampf-Urlaub".
Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt ruft: "Geht hin, redet, nicht von oben herab" - sie kommt aus Thüringen. Obwohl sie sich vor 25 Jahren mit dem ostdeutschen Bündnis 90 zusammengeschlossen haben, gelten die Grünen bei vielen als Partei gut situierter Wessis. Mit dem Sieger-Image könnte es schnell vorbei sein.
4. Bitte nach vorn schauen - Der Generationenwechsel läuft
Jürgen Trittin, Cem Özdemir und andere Grünen-Promis stehen in Leipzig nicht auf der Bühne. Die Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter dagegen sprechen zwar, fallen aber sonst kaum auf.
Die Hälfte der ersten zehn Plätze auf der Europaliste sichern sich Kandidaten unter 40, teils in Kampfabstimmungen. Habeck und Baerbock scheinen in ihrer neuen Rolle angekommen und wirken machtbewusst.
Aber wie stabil sind die Verhältnisse? Nächstes Jahr könnte es in der Bundestagsfraktion zum Machtwechsel kommen - und falls doch wieder Koalitionsverhandlungen anstünden, würden die Karten neu gemischt. © dpa
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