Symbolträchtige Orte der deutschen Einheit? Brandenburger Tor. Grenzübergang an der Bornholmer Straße. Klein-Glienicker Kapelle. Wie, kennen Sie nicht? Zugegeben, im damals wie heute beschaulichen Örtchen am Stadtrand von Berlin waren die Ereignisse nicht so spektakulär wie an den angesprochenen Schauplätzen. Und doch taugt es aufgrund seiner Lage und Geschichte zum Symbol für die deutsche Wiedervereinigung.
Andreas Kitschke hat sich in die Sonne auf die Bank neben "seiner" Kapelle gesetzt und erzählt ihre Geschichte. Nicht zum ersten Mal, das hört man. Aber genauso gerne wie beim ersten Mal, das merkt man. Und dann sagt er den Satz, der die Sonderrolle von Klein-Gleinicke perfekt beschreibt: "Egal, in welche Himmelsrichtung man ging, man kam immer nach Westen." Zuerst stutzt man. Doch bald wird klar, was der 59-Jährige damit meint.
Klein-Glienicke gehört zu Potsdam, also Brandenburg, liegt aber auf Berliner Gebiet und wurde daher nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem Spielball der Siegermächte, der den Irrsinn der deutschen Teilung auf für die Bewohner schmerzliche Weise deutlich machte: Die Siedlung wurde nach Gründung der DDR 1949 zunächst abgesperrt und nach dem Mauerbau schließlich komplett ummauert - und wurde so zu einer DDR-Exklave in West-Berlin.
Schauplatz spektakulärer Fluchten
Man kennt solche Geschichten aus Berlin, aus der Bernauer Straße beispielsweise, wo den Menschen die Mauer direkt vor die Nase gesetzt wurde. In Klein-Glienicke war es nicht anders. Die Grenze verlief quer durch die Häuser der dort lebenden Menschen. Immerhin bot sich so zu Beginn die Möglichkeit zur Flucht: "Man ging vorne im Osten ins Haus und sprang hinten im Westen wieder raus", erzählt Kitschke, dessen Großvater in Klein-Glienicke aufwuchs. Lange ging das natürlich nicht so weiter; die Häuser wurden abgerissen, die Mauer stattdessen aufgebaut.
Auch die Kapelle war Schauplatz spektakulärer Fluchten. Bei Dachdeckarbeiten beispielsweise gelang es den Handwerkern, dem zuständigen Grenzsoldaten, der ein wenig zu vertrauensselig geworden war, seine Waffe zu entwenden und mithilfe ihrer Leitern in den Westen zu klettern. Kurze Zeit später machte sich auch noch ein Orgelbauer aus dem Staub, der damalige Pfarrer Joachim Strauss wurde der Beihilfe bezichtigt. Für das DDR-Regime war klar: Die Kapelle stellt ein Sicherheitsrisiko dar, das es zu eliminieren galt. Fortan durfte niemand mehr das Gebäude betreten, sein Verfall schritt rapide voran.
Kitschke lebte damals in Babelsberg, also auf DDR-Gebiet, und hatte die Mauer zu West-Berlin ständig vor der Nase. Es sei ein ständiges sehnsüchtiges Hinüberblicken nach Westen gewesen. "Wenn man doch nur ein paar Schritte rüber könnte!" Auch nur ein paar Schritte entfernt, aber beinahe genauso fern wie der Westen: Klein-Glienicke. Denn selbst für Ostbürger war die Siedlung Sperrzone. Besuche mussten wochenlang vorher angekündigt werden, Nachbarn wurden befragt, ob man auch vertrauenswürdig sei, und am betreffenden Tag durfte man das Gebiet nur unter Begleitschutz betreten. "Zum eigenen Schutz natürlich", wie Kitschke erzählt. Schließlich hätte man ja aus dem Westen angegriffen werden können – so die offizielle Version. Heute wie damals ist klar: Die Grenzsoldaten mit Kalaschnikow sollten sicherstellen, dass man nicht abhaute.
Wiederaufbau als Symbol für Wiedervereinigung
Im Laufe der Jahre war Kitschke trotz der Steine, die ihm der Staat in den Weg legte, mehrfach in der Kapelle, um sich selbst ein Bild von ihrem Zustand zu machen. Dort lief das Wasser die Wände hinunter, Hausschwamm hatte Besitz vom Gebälk ergriffen, der Putz war größtenteils abgefallen. Das Gebäude war Ende der 1980er-Jahre in einem desolaten Zustand. Genauso wie die DDR selbst.
Mit dem Mauerfall wurde aus einem persönlichen Projekt plötzlich eines mit Symbolkraft. Denn bereits wenige Monate später gründete sich unter Kitschkes Leitung ein Verein zum Wiederaufbau der Kapelle - bestehend zu etwa gleichen Teilen aus Ost- und Westdeutschen. Binnen weniger Jahre wurden für ein auf den ersten Blick unwichtiges Gebäude 2,4 Millionen D-Mark aufgetrieben, mehr als zwei Drittel davon aus privaten Mitteln. "Zweifellos der Euphorie der Wiedervereinigung geschuldet", wie Kitschke einräumt. Aber offenbar war er nicht der Einzige, der die Kapelle als wichtiges gesamtdeutsches Symbol sah und so schnell wie möglich das reparieren wollte, was die Deutsche Demokratische Republik kaputt gemacht hatte.
25 Jahre nach dem Mauerfall erinnert heute in Klein-Glienicke kaum noch etwas an die jahrzehntelange Teilung. Die Kapelle erstrahlt in neuem Glanz. Mauerreste sucht man vergebens, an die DDR-Zeit erinnern nur noch Infostelen und die nahegelegene Glienicker Brücke, Schauplatz spektakulärer Agentenaustausche. Und doch: So ganz normal wird es hier wohl niemals sein. Auf dem Gelände neben der Kapelle hält der Besitzer heute Lamas.
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