Immer mehr Menschen suchen psychotherapeutische Hilfe – doch immer länger werden auch die Wartezeiten. Kirsten Kappert-Gonther, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, fordert den Bundesgesundheitsminister zum Handeln auf.
Depression, Sucht, Angststörungen: Für viele Menschen waren das in der Vergangenheit Tabuthemen. Doch über seelische Leiden wird in der Gesellschaft offener gesprochen, nicht zuletzt nach den Belastungen in der Corona-Pandemie.
Gleichzeitig ist das Angebot an Psychotherapie begrenzt. Das Thema treibt Kirsten Kappert-Gonther um. Die Grünen-Politikerin ist amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag und selbst "vom Fach": Sie war unter anderem als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und als niedergelassene Psychotherapeutin tätig.
Frau Kappert-Gonther, Sie haben vor rund 25 Jahren angefangen, in der Psychotherapie zu arbeiten. Hat sich der Umgang mit seelischer Gesundheit in dieser Zeit verändert?
Kirsten Kappert-Gonther: Ja, ganz eindeutig. Psychische Erkrankungen sind zwar immer noch in Teilen stigmatisiert, insbesondere Suchterkrankungen, psychotische Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen. Doch es ist üblicher geworden, offen darüber zu sprechen, dass jemand in Psychotherapie war oder sie sucht oder davon profitiert hat. Der Bedarf ist deutlich gestiegen. Das ist aber nicht nur mit dem offeneren Umgang zu erklären. Es gibt auch eine Zunahme an seelischen Krisen und Erkrankungen.
Inwiefern?
Der Druck auf die Seelen hat zugenommen. Wir hatten die Corona-Pandemie, jetzt den russischen Krieg gegen die Ukraine und natürlich auch die Klimakrise. All das lastet auf den Seelen. Es ist inzwischen beispielsweise gut belegt, dass die Erderhitzung direkt zu einer Zunahme seelischer Erkrankungen führt.
Umso problematischer ist es, wenn man lange auf Hilfe warten muss. Im Schnitt vergehen von der ersten psychologischen Sprechstunde bis zum Therapiebeginn 140 Tage.
Das ist sehr problematisch. Es erfordert immer noch Mut, den Hörer in die Hand zu nehmen und zu sagen: Ich möchte eine Therapie machen. Dann müssen die Betroffenen diese Hilfe möglichst schnell bekommen, damit ihr Leiden nicht womöglich chronisch wird. Diese Wartezeiten sind vielerorts zu lang. Besonders problematisch ist, dass sie für bestimmte Gruppen zum Teil noch länger sind.
Für welche?
Menschen mit schweren und chronischen psychischen Erkrankungen finden häufig besonders schwer ins Hilfesystem. Es gibt die überkommene Vorstellung, dass etwa Personen mit schizophrenen oder Suchterkrankungen wenig von einer Psychotherapie profitieren. Inzwischen weiß man, dass das nicht stimmt. Schwer haben es auch Menschen mit Migrationsgeschichte oder Menschen, die wenig Deutsch sprechen und für die Sprachbarrieren eine große Hürde sind. Außerdem ist es gerade im ländlichen Raum schwer, Hilfe zu finden – weil die Stigmatisierung größer ist, weil es weniger Angebote gibt oder ganz einfach kein Bus in die Stadt fährt. Und schließlich ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Hilfebedarf sprunghaft gestiegen. Da kommt das Hilfesystem überhaupt nicht hinterher.
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Kirsten Kappert-Gonther: "Eine Therapie privat zu bezahlen, ist für erkrankte Menschen häufig zu teuer"
Der Gemeinsame Bundesausschuss – ein Gremium aus Krankenkassen, Ärzteverbänden und Krankenhausbetreibern – legt sogenannte Verhältniszahlen fest: In städtischen Gebieten finanzieren die Kassen den Sitz eines Psychotherapeuten oder einer -therapeutin pro 3.000 Menschen. In ländlichen Gebieten dagegen kommen 6.000 Menschen auf einen Kassensitz. Ist das noch zeitgemäß?
Die Verhältniszahlen berücksichtigen regionale Pendlerbewegungen. Man ist bisher zudem davon ausgegangen, dass der Bedarf im ländlichen Raum niedriger ist. Das ist aus meiner Sicht nicht mehr haltbar. Die Verhältniszahlen müssen insgesamt abgesenkt werden. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche, weil der Hilfebedarf bei ihnen so eklatant gestiegen ist. Die psychotherapeutischen Kapazitäten auszubauen, wird allein aber nicht helfen.
Warum nicht?
Manche Personengruppen brauchen zusätzliche oder andere psychosoziale Hilfen. Für eine suchtkranke Person zum Beispiel könnte auch eine Suchtselbsthilfegruppe förderlich sein. Die psychotherapeutische Hilfe muss besser vernetzt werden mit anderen Hilfesystemen. Zum Beispiel mit betreutem Wohnen oder mit Hilfe am Arbeitsplatz.
Gäbe es in Deutschland überhaupt genügend Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, um das Angebot auszubauen?
Grundsätzlich haben wir im Gesundheitsbereich einen eklatanten Fachkräftemangel. Glücklicherweise haben wir aber sehr viele hervorragend ausgebildete Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Viele von ihnen würden gerne im niedergelassenen Bereich arbeiten, bekommen derzeit aber keinen kassenärztlichen Sitz.
Sie haben dann die Möglichkeit, trotzdem eine Praxis zu eröffnen und privat abzurechnen.
Eine Therapie privat zu bezahlen, ist für erkrankte Menschen häufig einfach zu teuer. Es kann deshalb ein Antrag gestellt werden, sodass die Kosten für die Therapie von der Kasse übernommen werden. Ich bin aber der Meinung, dass dieser Weg zu bürokratisch ist. Für den Übergang müssen wir diese Kostenübernahme erleichtern. Insgesamt wird aber kein Weg daran vorbeiführen, die Kapazitäten zu erhöhen.
Das wäre eine Aufgabe der Politik. Die Ampel-Parteien haben in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, die psychotherapeutische Bedarfsplanung zu reformieren, um die Wartezeiten zu verkürzen. Warum ist das bisher nicht geschehen?
Der Gemeinsame Bundesausschuss entscheidet über die Bedarfsplanung und die Verhältniszahlen. Er kann selbst tätig werden und ich habe den Eindruck, dass man die aktuelle Situation dort zur Kenntnis nimmt. Die Politik kann und sollte dem Gemeinsamen Bundesausschuss aber einen entsprechenden Auftrag geben, eine neue Bedarfsplanung vorzulegen.
Ist das denn geschehen?
Nach meiner Kenntnis noch nicht. Das muss der Bundesgesundheitsminister machen.
Was erwarten Sie von Karl Lauterbach?
Ich erwarte, dass der Bundesgesundheitsminister dem Gemeinsamen Bundesausschuss nun zügig den Auftrag erteilt, eine neue psychotherapeutische Bedarfsplanung zu erarbeiten. Der aktuellen Planung liegen Zahlen von 1990 zugrunde. Dieser Prozess nimmt Zeit in Anspruch, aber man muss ihn jetzt auf den Weg bringen. Dafür braucht der Gemeinsame Bundesausschuss einen Auftrag des Ministers.
Corona-Zahlen: "Wir müssen jetzt sehr aufmerksam sein"
Der gestiegene Bedarf an Psychotherapie ist auch eine Folge der Coronakrise. Die Pandemie gilt als überwunden – allerdings steigen gerade wieder die Infektionszahlen. Wie sollte die Gesundheitspolitik aus Ihrer Sicht reagieren?
Wir müssen zumindest die Augen aufmachen und die Daten aus dem Abwassermonitoring beobachten. Damit lässt sich erkennen, welche Virus- und Krankheitslast sich gerade entwickelt. Da müssen wir jetzt sehr aufmerksam sein. In der südlichen Hemisphäre steigen die Zahlen bereits deutlich. Es ist zu erwarten, dass auch bei uns im Herbst und Winter die Zahl der Bronchial- und Lungenerkrankungen zunimmt.
Was raten Sie Bürgerinnen und Bürgern?
Wir haben jetzt in der Regel einen deutlich besseren Schutz als in der Anfangszeit, auch gegen Mutationen, weil die meisten von uns mindestens doppelt geimpft sind und viele auch eine Infektion hatten. Aber Menschen über 60 und chronisch erkrankte Menschen haben ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf. Sie sind auf Solidarität angewiesen und sollten mit dem Hausarzt oder der Hausärztin darüber sprechen, welche Impfung sinnvoll ist – zum Beispiel eine Kombi-Impfung aus Grippeschutz und Corona-Schutz.
Aber eine Rückkehr zu Corona-Schutzmaßnahmen schließen Sie aus?
Wir wissen noch nicht, was wir brauchen werden. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, irgendetwas anzukündigen. Ich halte es für ein Gebot der Verantwortung, dass Menschen mit Symptomen oder einem positiven Corona-Test in der Öffentlichkeit freiwillig Maske tragen, um niemanden anzustecken. Grundsätzlich muss sich die Politik auch fragen, was wir tun können, um künftige Pandemien weniger wahrscheinlich werden zu lassen. Und da ist die Antwort ganz klar mehr Klimaschutz. Weil wir wissen: Mit zunehmender Erderhitzung steigt das Risiko neuer Pandemien.
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