Die Gefahrenlage durch politisch motivierte Straftaten nimmt in Deutschland zu, sagt der Extremismusforscher Hendrik Hansen. Ein Gespräch über den neuen Verfassungsschutzbericht, eine israelfeindliche Querfront und die Radikalisierung der Klimabewegung.

Ein Interview

Am Montag stellte der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz den Bericht seiner Behörde für das Jahr 2023 vor. "Es gibt nicht viel Positives zu berichten", sagte Thomas Haldenweg auf der Pressekonferenz in Berlin. Die Zahlen extremistischer Straftaten weisen von ganz links bis ganz rechts in eine Richtung: nach oben.

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Im Gespräch mit unserer Redaktion ordnet der Extremismus-Experte Hendrik Hansen die wichtigsten Ergebnisse des Verfassungsschutzberichtes ein. "Wir haben in allen Phänomenbereichen eine sehr dynamische Entwicklung", sagt der Professor der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Sicherheitsbehörden bräuchten daher einen "360-Grad-Blick".

Herr Hansen, für 2023 registriert der Verfassungsschutz 40.000 Straftaten mit einem extremistischen Hintergrund. Wie sehr muss uns das alarmieren?

Extremismus-Forscher Hendrik Hansen © Hendrik Hansen

Hendrik Hansen: Wir haben ein anhaltend hohes Gefährdungsniveau in allen Phänomenbereichen und in einigen Bereichen einen deutlichen Anstieg der Straftaten, auch der Gewalttaten. Im Rechtsextremismus sehen wir seit einigen Jahren einen kontinuierlichen Anstieg der Zahl der Körperverletzungsdelikte, was sehr bedrohlich ist. Auch die Propagandadelikte und Delikte im Bereich Volksverhetzung und Beleidigung nehmen zu. Das ist auch ein Ausdruck der zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft. Im Linksextremismus sind die Zahlen unter denen von 2021, doch im Vergleich zu 2022 gab es einen deutlichen Anstieg. Dann haben wir noch den massiven Anstieg von Straftaten im Bereich Islamismus und auslandsbezogenem Extremismus im Kontext des Nahostkonflikts.

Wie stellen sich diese Entwicklungen im Vergleich der vergangenen Jahrzehnte dar?

Auch über einen Zeitraum von Jahrzehnten haben wir es mit einem kontinuierlichen Anstieg extremistischer Straftaten zu tun. Allerdings gibt es Schwankungen im Vergleich der einzelnen Kategorien. Über Jahre hinweg waren die Gewalttaten im Bereich des Linksextremismus höher als im Rechtsextremismus. Seit 2022 ist es umgekehrt.

28.945 Straftaten werden im Verfassungsschutzbericht dem rechten Spektrum zugeordnet. Ist der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Sicherheit in Deutschland?

Ja. Man muss aber in Rechnung stellen, dass es im Linksextremismus viel weniger Propagandadelikte gibt. Im Rechtsextremismus werden häufig illegale Symbole mit NS-Bezug, etwa das Hakenkreuz, verwendet. Im linken Spektrum gibt es dazu nichts Analoges. Rechnet man die Propagandadelikte heraus, sind dennoch die Straftaten im Rechtsextremismus höher. Zugleich muss man sagen: Wir haben in allen Phänomenbereichen eine sehr dynamische Entwicklung mit neuen Erscheinungsformen von Straftaten. Es muss in alle Richtungen geschaut werden.

"Wir sehen seit dem 7. Oktober eine massive Mobilisierung, die pauschal israelfeindlich ist."

Hendrik Hansen, Extremismusforscher

Auffällig ist die enorme Zunahme antisemitischer Straftaten, insbesondere seit dem Hamas-Angriff auf Israel. Wie würden Sie beschreiben, was in Deutschland seit dem 7. Oktober passiert?

Das ist eindeutig eine Zäsur. Wir sehen seit dem 7. Oktober eine massive Mobilisierung, die pauschal israelfeindlich ist, sodass man hier auch von offenem Antisemitismus sprechen muss. Das Besondere ist, dass es bei den Demonstrationen und Protesten eine Zusammenarbeit von ganz unterschiedlichen Gruppen gibt.

Einerseits Islamisten wie "Generation Islam" oder "Muslim Interaktiv", die der verbotenen "Hizb ut-Tahrir" nahestehen. Andererseits Gruppen aus dem auslandsbezogenen Extremismus, etwa "Samidoun", eine Unterstützungsorganisation der linksterroristischen palästinensischen PFLP, die im November 2023 verboten wurde. Hinzu kommen anti-imperialistische Linksextremisten. Teilweise wurden sogar Personen aus dem rechtsextremistischen türkischen Spektrum, sogenannte "Graue Wölfe", bei diesen Protesten beobachtet. Das ist eine Querfront, die es in der Vergangenheit so noch nicht gegeben hat. Gerade wegen des Ausmaßes an Antisemitismus ist das sehr beunruhigend.

Wird uns diese Mischung aus Akteuren auch dann noch beschäftigen, wenn der Krieg in Gaza irgendwann zu Ende ist?

Wenn der Krieg vorbei ist, ist der Nahostkonflikt noch nicht gelöst. Das Potenzial dieser Querfront wird uns daher erhalten bleiben – genauso wie der Antisemitismus, der damit verbunden ist.

"Angriffe dieser Art kann man bereits als Terrorismus bezeichnen."

Hendrik Hansen

Gewalttaten im Kontext der Klimaprotestbewegung haben laut Verfassungsschutzbericht um 423 Prozent zugenommen, von 56 Fällen 2022 auf 293 im vergangenen Jahr. Was steckt hinter dieser Radikalisierung?

Im Bereich der Klimaschutzbewegung gibt es eine Reihe von Organisationen, die hinsichtlich der Ergebnisse der Klimapolitik frustriert sind. Diese Gruppen glauben, dass man nun zu anderen Protestformen greifen muss. Deren Radikalisierung hat sich bislang auf zivilen Ungehorsam konzentriert, geht jetzt aber zu einer offenen Propagierung von Sabotage über. Insbesondere ist der Fall bei der Bewegung "Ende Gelände", die erstmals im Verfassungsschutzbericht auftaucht. Akteure wie "Switch off the System of Destruction" oder die "Vulkangruppen" im Raum Berlin verüben schwere Brandanschläge auf die Energieinfrastruktur. Der bekannteste Anschlag wurde im März 2024, also nach Ende des Betrachtungszeitraums des neuen Verfassungsschutzberichts, auf das Tesla-Werk in Brandenburg verübt. Angriffe dieser Art kann man bereits als Terrorismus bezeichnen.

Welche Lehren sollten Verfassungsschutz und Sicherheitsbehörden aus dem Bericht ziehen?

Man braucht im Bereich der inneren Sicherheit einen 360-Grad-Blick. Das heißt, man muss in alle extremistischen Richtungen hin wachsam bleiben. Wichtig ist, nicht nur auf die Straftaten zu gucken. Extremistisch sind alle Bestrebungen, die sich in grundlegender Weise gegen Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland wenden – gerade auch dann, wenn dies mit legalen Mitteln geschieht. Beides muss im Blick behalten werden: Zum einen die Gruppen, die Straftaten begehen, zum anderen die, die mit ganz legalen Methoden versuchen, unsere politische Ordnung zu bekämpfen. Das ist aber etwas, was der Verfassungsschutz schon seit vielen Jahren sehr intensiv macht.

Über den Gesprächspartner

  • Hendrik Hansen ist Professor für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin. Dort beschäftigt er sich unter anderem mit dem Verfassungsschutz sowie mit verschiedenen Formen des Extremismus.
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