- Auch nach den Erdbeben setzt Erdogan seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Kurden fort.
- Vereinzelte Luftangriffe und abgefangene Hilfslieferungen verschlimmern die Lage im Nordwesten Syriens.
- Der Menschenrechtler Kamal Sido fordert von Deutschland eine stärkere Positionierung gegen den Nato-Partner.
Auch nach den katastrophalen Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet führt Erdogan seinen Krieg gegen die Kurden in Nordsyrien fort. Die ohnehin schon verheerende humanitäre Lage verschlimmert sich dadurch. Dabei bräuchten auch die Menschen dort schnelle Hilfe nach den Erdbeben – es fehlt an Essen, einer warmen Unterkunft und Medikamenten.
Auf der türkischen Seite läuft die Hilfe immer besser an. In der Südosttürkei sind 1,2 Millionen Menschen in Notunterkünften untergekommen. Rund 176.000 Zelte wurden in den am stärksten betroffenen Provinzen aufgestellt, teilte das Präsidialbüro am Montag mit. Auf der anderen Seite der türkisch-syrischen Grenze zeigt sich ein anderes Bild: Das von der Türkei besetzte Gebiet rund um Afrin in Syrien ist von Hilfslieferungen nahezu abgeschnitten.
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London berichtet, dass sogar Hilfslieferungen abgefangen werden. So seien 52 Lastwagen mit Hilfsgütern gestoppt worden. Die Laster kamen demnach aus den kurdisch kontrollierten Gebieten im Osten Syriens und seien von Türkei-nahen Rebellen gestoppt worden.
Türkei setzt Angriffe nach Erdbeben fort
Die Hilfe würde im Nordwesten Syriens dringend gebraucht. Kamal Sido, Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker, berichtet von einer katastrophalen Lage in der Kleinstadt Dschinderes nahe Afrin, die vom Erdbeben zu großen Teilen zerstört wurde und in der es Hunderte Opfer gab.
Sido, der selbst in Afrin geboren wurde, hat dort Verwandte, die das Erdbeben überlebt haben. Diese leiden darunter, dass der Zugang zur Region von der türkischen Armee versperrt wird. "Ich möchte nach Afrin reisen und meine Verwandten dort unterstützen, ohne verhaftet zu werden", sagte Sido im Gespräch mit unserer Redaktion.
Jedoch deutet im Moment wenig darauf hin, dass Erdogan sich darauf einlassen könnte. Schon in den Tagen nach den Erdbeben setzte die Türkei ihre Angriffe fort. Eine Helferin der Organisation Kurdischer Roter Halbmond erklärte gegenüber dem ZDF, dass es in der schwer vom Beben getroffenen Gegend weiter Bombardements gegeben habe.
Auch Kamal Sido bestätigt das und schildert die dramatischen Erlebnisse seiner Verwandten: "Normalerweise haben sie sich in den Kellern der Häuser vor Luftangriffen versteckt, aber diesmal hatten sie genauso große Angst, bei einem Nachbeben verschüttet zu werden." Andere haben keinen Keller mehr, in dem sie Schutz suchen könnten.
PKK will vorerst alle Angriffe einstellen
Am Montag wurde von einem Drohnenangriff auf das östlicher gelegene Kobane berichtet, das ebenfalls vom Erdbeben betroffen ist. "Erdogan hat vor dem Erdbeben erklärt, dass er Kobane besetzen will. Das könnte er jetzt umsetzen", glaubt Sido.
Der türkische Präsident schreckt nicht davor zurück, den Krieg auch auf den Trümmern in Nordsyrien fortzusetzen, obwohl die Katastrophe eine Gelegenheit zum Innehalten gewesen wäre. So kündigte die von Deutschland als Terrororganisation eingestufte PKK an, alle Angriffe vorerst einzustellen. Die PKK kämpft in der Türkei gegen die kulturelle Unterdrückung der Kurden.
In Syrien führt Erdogan Krieg gegen die Kurdenmiliz YPG, die von der Türkei als Arm der PKK angesehen wird, sich aber selbst als unabhängig bezeichnet. In den von den Kurden kontrollierten Gebieten wird ein deutlich liberalerer Islam gelebt, was sich vor allem bei den stärker ausgeprägten Frauenrechten bemerkbar macht.
Erdogans Krieg ist völkerrechtswidrig
Erdogans Krieg gegen die Kurden in Nordsyrien ist laut dem Völkerrechtler Andreas Schüller völkerrechtswidrig. Es habe zwar Anschläge in der Türkei gegeben, diesen fehle aber die "Erheblichkeitsschwelle", um einen Krieg auf einem fremden Staatsgebiet zu rechtfertigen, erklärt Schüller im ARD-Magazin MONITOR.
Den letzten Anschlag im November 2022 in Istanbul nutzte Erdogan als Anlass für seine aktuelle Offensive gegen die Kurden. Er machte die YPG für das Attentat verantwortlich und kündigte Vergeltung an: "So Gott will, werden wir sie schon bald alle mit unseren Panzern, mit unseren Soldaten und mit der Hilfe unserer Freunde ausrotten." Jedoch gibt es erhebliche Zweifel daran, ob der Anschlag, bei dem sechs Menschen starben, tatsächlich von der YPG durchgeführt wurde.
Erdogans Ziel sei es laut Sido, die Kurden weiter aus Nordsyrien zu vertreiben, um dort türkische und arabische Siedlungen zu bauen. In Gebieten, die die Türkei kontrolliert, würden die Häuser beschlagnahmt und Kurden teilweise auch unter Anwendung von Gewalt aus den Gebieten vertrieben.
Kamal Sido fordert Solidarität von Deutschland
Der deutsch-kurdische Menschenrechtsaktivist Sido nennt das Vorgehen eine "ethnische Säuberung" und fordert von der deutschen Regierung, sich stärker gegen seinen Nato-Partner Türkei zu positionieren. Wichtige Schritte wären ein sofortiges Ende der Angriffe und eine Öffnung der Grenze in den Erdbebengebieten, sodass Hilfslieferungen in die betroffenen Gebiete im Nordwesten Syriens gelangen.
Jedoch fehlt dem Westen schon lange ein wirksames Druckmittel gegen Erdogan. Die EU und die USA brauchen Erdogans Zustimmung beim Nato-Beitritt von Finnland und Schweden. Außerdem arbeiten EU und Türkei eng in der Migrationspolitik zusammen.
Trotzdem gibt Kamal Sido die Hoffnung nicht auf: "Wenn die türkische Regierung die Grenzen öffnet, würde ich morgen nach Afrin reisen, um zu helfen."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Kamal Sido, Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker
- tagesschau.de: Anschlag von Istanbul - Details, die Fragen aufwerfen
- MONITOR: Syrien: Erdogans Krieg gegen die Kurden
- ZDF: Interview mit Fee Baumann von der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond
- dpa
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