Die ungleiche Verteilung des Vermögens nagt an Deutschland. Schuld an dieser Fehlentwicklung ist die Politik, sagt der Soziologe Michael Hartmann und warnt vor einem gefährlichen Teufelskreis aus Frust, Nichtwählen und noch mehr Frust angesichts der Zuspitzung der Verhältnisse.
Herr Hartmann, Sie sagen, die Politik sei schuld an der oft beklagten sozialen Ungleichheit in Deutschland. Macht man es sich nicht zu leicht, wenn man auf die da oben schimpft?
Michael Hartmann: Zu leicht macht es sich, wer auf die anonyme Globalisierung schimpft. Hauptverantwortlich für die enorme Spreizung zwischen Arm und Reich sind politische Entscheidungen.
Woran denken Sie?
Die Agenda 2010 hat die Armut verstärkt und einen Niedriglohnsektor geschaffen: Jeder Fünfte verdient heute maximal zehn Euro brutto. Am anderen Ende der Einkommensskala ist die Steuerbelastung für Topverdiener ab 1998 massiv zurückgefahren worden. Die größten Einkommen resultieren dabei aus Vermögen.
Die Körperschaftsteuer wurde gesenkt, wodurch Unternehmen höhere Gewinne machen und mehr Geld an ihre Aktionäre ausschütten können: 2002 waren das bei den DAX-Unternehmen insgesamt zehn Milliarden, 2016 schon über 36 Milliarden. Und die meisten Aktien sind im Besitz der oberen zehn Prozent.
Dazu kommt, dass Familienunternehmen vielfach fast erbschafts- und schenkungssteuerfrei vererbt werden können, wobei 50 der 100 größten deutschen Unternehmen Familienunternehmen sind.
Vermögen vermehrt sich also quasi von selbst, während man durch reguläre Arbeit in einem Leben kein nennenswertes Kapital anhäufen kann?
So ist es. Mein Lieblingsbeispiel dazu ist BMW: Der durchschnittliche BMW-Beschäftigte verdient 90.000 Euro im Jahr. Der Vorstandschef 8,4 Millionen, also gut das 90-Fache. Susanne Klatten und Stefan Quandt, die beiden Hauptaktionäre, haben 2017 eine Dividende von über 1,1 Milliarde Euro erhalten. Schlagzeilen machen immer die astronomischen Gehälter der Vorstandsleute. Dabei bekommen die, die große Vermögen haben, noch mal deutlich mehr.
Warum investieren hauptsächlich die Topverdiener in Aktien?
Die untere Hälfte der Einkommensskala hat nichts zum Sparen. Die Mitte legt lieber sicher an, denn wer nicht so viel hat und unter Umständen schnell an das Geld heran muss, kann Kursverluste nicht jahrelang aussitzen. Umso ungerechter ist es, dass in der Finanzkrise, als die Risiken des Aktiengeschäfts zum Tragen kamen, dem normalen Steuerzahler die Verluste aufgebürdet worden sind.
Der überwiegende Teil der Bevölkerung gehört also zu den Verlierern dieser Entwicklung. Wie kann es da sein, dass SPD-Kanzlerkandidat
Zu Beginn hatte Martin Schulz damit ja durchaus Erfolg. Viele ehemalige SPD-Wähler, die der Partei die Schröder-Jahre übel genommen hatten, waren bereit, wieder SPD zu wählen. Aber nach den ersten Parolen wurde Schulz nicht konkret und spätestens, als er beim Parteitag im Frühjahr
Was ist mit der Linken? Die Partei hat sich im Wahlkampf ja für eine Verschärfung der Erbschaftssteuer und für eine Vermögenssteuer stark gemacht.
Viele Wähler haben Vorbehalte gegen die Linke. Und sie ist schlicht zu klein. Den meisten ist klar, dass ohne die SPD kein Kurswechsel möglich ist. Beim Thema Erbschaftssteuer kommt hinzu, dass 90 Prozent der Leute glauben, sie wären von einer strengeren Erbschaftssteuer selbst betroffen. Dabei ist das Unsinn.
Wer das Häuschen der Oma erbt, hätte nichts zu befürchten?
Zumeist nicht, dafür sind die Freibeträge hoch genug. Momentan profitieren die Falschen, die großen Unternehmer und die vermögenden Bürger. Man sollte ja meinen, je höher die Summe ist, die vererbt wird, desto höher müsste der Steuersatz sein, aber das Gegenteil ist der Fall.
Ein Beispiel: Schenkungen zwischen 100.000 und 200.000 Euro werden durchschnittlich mit einem Steuersatz von 6,5 Prozent belangt. Reden wir von über 20 Millionen, liegt der Steuersatz noch bei 0,4 Prozent.
Bedroht diese Ungerechtigkeit den Zusammenhalt unserer Gesellschaft?
Die Ungleichheit birgt eine enorme Sprengkraft. Schauen Sie sich um: Die Wahl von Donald Trump, der Brexit, der Rechtsruck in Italien - überall ist die Hauptursache, dass sich die sozialen Verhältnisse zugespitzt haben. Und im Kern gilt das auch für den Erfolg der AfD.
Welchen Zusammenhang sehen Sie?
Nach 1998 ist die Wahlbeteiligung in den unteren Einkommensgruppen massiv gesunken. Zuletzt hat sie sich auf niedrigem Niveau stabilisiert. Im Kern betraf das die SPD-Wählerschaft. Die SPD war traditionell die Partei der unteren Bevölkerungshälfte, aber Gerhard Schröder hat eine Politik gemacht, in der die Stammwähler sich nicht wiedergefunden haben. Sie wollten der SPD einen Denkzettel verpassen und sind nicht zur Wahl gegangen. Das hat aber niemanden interessiert. Also ist ein Teil zur AfD übergelaufen, weil die neben dem Nichtwählen eine zweite Möglichkeit des Protests bietet.
Wenn diejenigen, in deren Interesse eine Umverteilung wäre, gar nicht oder die AfD wählen - ist dann zu befürchten, dass sich die Lage zuspitzt?
Im Zuge des jüngsten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung haben Forscher festgestellt, dass es einen sich selbst verstärkenden Effekt gibt: Die Unteren sehen, dass die Politik nichts für sie tut und gehen nicht mehr zur Wahl. Die Parteistrategen sagen dann: Wenn die ohnehin nicht zur Wahl gehen, brauchen wir deren Wünsche auch nicht berücksichtigen. So kommt eine Spirale in Gang, die den Erfolg der AfD begünstigt.
Was ist in dieser Hinsicht von der AfD zu erwarten?
Diejenigen, die die AfD aus Protest gegen die Ungleichheit gewählt haben, werden eine böse Überraschung erleben, denn die wirtschaftspolitischen Programme der rechtspopulistischen Parteien forcieren die gegenwärtige Entwicklung nur. Das sieht man derzeit in Österreich und Italien: FPÖ und ÖVP wollen den Zwölf-Stunden-Tag einführen. Die Lega plant eine Flatrate-Steuer, bei der auch jeder noch so Reiche nur noch maximal 20 Prozent Steuern bezahlen muss.
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