Nach dem Tod der US-Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg hat das politische Ringen um ihre Nachfolge begonnen. Doch warum streiten Republikaner und Demokraten so erbittert um die Neubesetzung für dieses Amt?

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Es kommt selten vor, dass Republikaner und Demokraten einer Meinung sind. Fast nie in den Wochen unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl. Aber der Tod der hoch angesehenen US-Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg bewegt beide politischen Lager.

US-Präsident Donald Trump würdigte Ginsburg als "Titanin des Rechts". Ihre historischen Entscheidungen hätten alle US-Bürger inspiriert, erklärte er nach dem Krebstod der Juristin im Alter von 87 Jahren.

"Heute trauert unsere Nation um eine amerikanische Heldin, eine Gigantin der Rechtslehre und eine unermüdliche Stimme im Kampf um das höchste amerikanische Ideal: gleiches Recht vor dem Gesetz", erklärte Trumps Herausforderer Joe Biden.

Doch die Einigkeit bei der Würdigung von Ginsburgs Lebensleistung war nur von kurzer Dauer. Demokraten und Republikaner ringen seit Tagen um die Nachfolge der Richterin am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Wie erklären warum.

Welche Rolle spielt der Supreme Court in den USA?

Der Supreme Court ist das höchste Gericht der USA und fungiert als oberste Instanz in allen Rechtsbereichen. Seine Grundsatzentscheidungen prägen die Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten. Die neun Richter werden auf Lebenszeit ernannt.

Warum wird um die Neu-Besetzung der Richterstelle so gestritten?

Die Besetzung des obersten Gerichts ist von höchster politischer Brisanz. Wegen der starken Polarisierung des Landes hat der Supreme Court häufig in Schlüsselfragen das letzte Wort.

1. Republikaner wollen aktuelle Mehrheit nutzen

Wird ein Sitz frei, weil ein Richter stirbt oder ausscheidet, ernennt der US-Präsident laut Verfassung "auf Anraten und mit Zustimmung" des Senats einen Nachfolger. Er benötigt dabei eine (einfache) Mehrheit der 100 Senatoren. Eine Abstimmung so kurz vor der Präsidentschaftswahl wäre höchst ungewöhnlich – aber nicht unmöglich.

Derzeit haben die Republikaner mit 53 Sitzen die Mehrheit in der Kammer inne, die Demokraten könnten also derzeit einen Kandidaten Trumps allein mit eigenen Kräften nicht verhindern. Bei einem Patt kann der US-Vizepräsident die entscheidende Stimme beitragen.

Nach der Wahl am 3. November könnte die Sitzverteilung aber ganz anders aussehen: Zusammen mit der Präsidentenwahl wird in diesem Jahr auch über 35 Senatssitze abgestimmt. Der neue Senat tritt erst im kommenden Jahr zusammen. Möglich wäre dadurch zum Beispiel auch eine Konstellation, bei der Trump die Wiederwahl schafft, aber die Republikaner die Mehrheit im Senat verlieren. Dann hätten sie noch bis Ende des Jahres die Chance, Ginsburgs Sitz zu besetzen.

2. US-Rechtssprechung wird über Jahrzehnte beeinflusst

Die Nachfolgefrage ist auch deshalb so umstritten, da der US-Präsident mit der Auswahl eines Kandidaten die Rechtsprechung und damit das gesellschaftliche Klima in den USA weit über seine Amtszeit hinaus beeinflussen kann. Ginsburg war eine der dienstältesten Richterinnen und bereits seit 1993 im Amt. Sie galt als Vorreiterin für Frauenrechte und liberale Denkweisen.

Die durch ihren Tod entstandene Vakanz im Verfassungsgericht bietet Trump nun die Chance, dort eine konservative Mehrheit möglicherweise für Jahrzehnte zu sichern. In dem neunköpfigen Richterkollegium haben die konservativen Kräfte bereits ein Übergewicht, dieses könnte sich nun noch mehr verstärken.

3. Nachfolgefrage wird Thema im Wahlkampf

Eine rasche Ernennung eines konservativen Richters könnte Trump, der in den Umfragen derzeit hinter seinem Herausforderer Biden liegt, zudem weitere Stimmen von Abtreibungsgegnern und anderen erzkonservativen Gruppen sichern.

Bereits einen Tag nach Ginsburgs Tod twitterte Trump am Samstag, ihren Nachfolger zu bestimmen, sei eine "Verpflichtung ohne Aufschub".

Trump will den Sitz Ginsburgs noch vor Ablauf seiner aktuellen Amtszeit am 20. Januar 2021 besetzen. Auch der Mehrheitsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, hat bereits angekündigt, dass es zu einer Abstimmung kommen solle. Allerdings regt sich auch unter Trumps Republikanern vereinzelt Widerstand.

Der demokratische Präsidentschaftskandidat Biden dringt hingegen darauf, mit der Entscheidung zu warten in der Hoffnung, dass er die Wahl gewinnt. Das Vorhaben Trumps, den vakanten Posten möglichst schnell zu besetzen, kritisierte Biden als "Machtmissbrauch" und Akt "roher politischer Macht".

Zugleich verweisen die Demokraten auf Parallelen zum Jahr 2016, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Damals weigerten sich die Republikaner, Barack Obamas Vorschlag zu bestätigen – mit dem Verweis darauf, dass im Wahljahr kein neuer Richter eingesetzt werden solle.

Ginsberg selbst hatte einem Bericht des US-Senders NPR zufolge kurz vor ihrem Tod die Hoffnung geäußert, dass ihr Nachfolger erst nach der Wahl bestimmt werde. Wenige Tage vor ihrem Tod diktierte sie demnach ihrer Enkelin Clara Spera ihren "letzten Willen": "Mein sehnlichster Wunsch ist, dass ich nicht ersetzt werde, bis ein neuer Präsident eingesetzt wurde."

Welche politische Einstellung haben die jetzigen Richter am Supreme Court?

Nach dem Tod von Ginsburg muss der eigentlich neun Richter zählende Supreme Court in Washington vorübergehend mit acht Richtern arbeiten. Bei strittigen Themen spielt auch deren politische Einstellung eine Rolle.

Trump hat seit seinem Amtsantritt im Januar 2017 bereits zwei neue Verfassungsrichter in dem Gremium ernannt. Ginsburg war eine der vier verbliebenen Liberalen. Die Einsetzung eines sechsten konservativen Richters könnte die US-Rechtsprechung auf Jahrzehnte etwa beim Abtreibungs- und Waffengesetz, beim Gesundheitssystem oder den Rechten sexueller Minderheiten prägen.

Die acht aktuellen Richter im Überblick, geordnet von linksliberal bis konservativ:

  • Sonia Sotomayor (66) kämpft häufig für unterrepräsentierte Teile der Gesellschaft und versucht, in Ungnade gefallene, in Vergessenheit geratene oder unbeliebte Antragsteller zu schützen. Wie Elena Kagan stimmt sie meist aus einer linksliberalen Grundeinstellung heraus.
  • Elena Kagan (60) zählt gemeinsam mit Sotomayor zum linksliberalen Spektrum am obersten Gerichtshof. Die beiden von Präsident Barack Obama nominierten Richterinnen sind sich meist einig. Kagan ist die jüngste und zugleich erst die vierte weibliche Richterin.
  • Stephen Breyer (82) schätzt den Kompromiss, gilt als moderater Vermittler, tendiert aber eher nach links. Der einst von Bill Clinton nominierte Richter ist für einen ausgezeichneten Schreibstil und seine ausführlichen Fragen bei mündlichen Verhandlungen bekannt.
  • John Roberts (65) ist Vorsitzender des Supreme Court und zählt zum konservativen, aber nicht erzkonservativen Lager. Der von George W. Bush nominierte Richter vertrat bei Fragen zu Abtreibung und Waffen Positionen im Sinne der Republikaner, driftete in den letzten Jahren aber etwas nach links.
  • Neil Gorsuch (53) hatte schon den Ruf eines klaren Befürworters laxer Schusswaffengesetze, als ihn Trump mit einer seiner ersten Amtshandlungen als Supreme-Court-Richter vorschlug. Der Konservative spielte eine maßgebliche Rolle bei der teilweisen Umsetzung von Trumps Einwanderungsstopp für manche Muslime.
  • Brett Kavanaugh (55) kam als bislang letzter Richter neu an den Supreme Court. Trump boxte seinen Wunschkandidaten 2018 gegen große Widerstände durch, nachdem ihn mehrere Frauen sexueller Übergriffe beschuldigt hatten. Schon in der Senatsanhörung zu den Vorwürfen disqualifizierte er sich in den Augen vieler Kritiker für den Job als unabhängiger Richter durch ein aufbrausendes Verhalten.
  • Samuel Alito (70) ist der Rockstar der religiösen Rechten am Supreme Court. Die Meinungen des von George W. Bush nominierten Richters sind meist absehbar: Er ist gegen Abtreibung, Homo-Ehe, strengere Waffengesetze und stärkere Auflagen für Wahlkampfspenden.
  • Clarence Thomas (72) gilt als erzkonservativ. Er sprach sich etwa gegen das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe aus. Der Afroamerikaner aus dem Südstaat Georgia schweigt bei mündlichen Verhandlungen fast immer, doch seine gepfefferten Texte sind umso schärfer.

Wie groß ist der Einfluss des US-Präsidenten auf den Supreme Court?

Diese Frage stellte sich in der Geschichte des Supreme Courts immer wieder, die im Jahr 1789 begann. Die Unabhängigkeit seiner Richterinnen und Richter soll dadurch garantiert werden, dass diese im Amt bleiben können, "solange ihre Amtsführung einwandfrei ist", so Artikel 3 der US-Verfassung.

Allerdings kann genau das dazu führen, dass die Berufung von Kandidaten die politische Linie des Obersten Gerichts auf lange Zeit zementiert. Der Supreme Court setzt sich seit 1869 aus neun Richterinnen und Richtern zusammen; zuvor variierte diese Zahl zwischen sechs und zehn.

Hat ein Präsident nicht die politische Mehrheit des Senats hinter sich, kann dieser einen Kandidaten blockieren. In diesem Fall würde ein US-Präsident wohl einen gemäßigten Kandidaten vorschlagen, der sowohl in der eigenen Partei als auch bei Mehrheitspartei im Senat Anerkennung fände.

Welche Nachfolger sind gerade im Gespräch?

Vergangene Woche hatte Trump bereits eine Liste mit 20 möglichen Kandidaten vorgelegt – alle zutiefst konservativ. "Höchstwahrscheinlich" werde er eine Frau als Nachfolgerin für Ginsburg nominieren, betonte Trump.

Wen genau, will der US-Präsident noch diese Woche bekanntgeben. "Ich denke, es wird Freitag oder Samstag sein", sagte Trump am Montag dem US-Sender Fox News. Er werde bis nach der Beisetzung Ginsburgs warten.

Laut dem US-Sender CNN favorisiert Trump Amy Coney Barrett. Die 48-Jährige ist derzeit Bundesrichterin und soll bei religiösen Konservativen beliebt sein. Daneben nannte die "New York Times" Barbara Lagoa als mögliche Kandidatin. Die 52-Jährige ist Tochter kubanischer Flüchtlinge und arbeitet aktuell an einem US-Berufungsgericht. Sie war zudem die erste hispanische Frau, die an den Obersten Gerichtshof von Florida berufen wurde. (afp/dpa/mf)

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