Die Einkommen in Deutschland entwickeln sich auseinander und auch die Armut ist gestiegen. Das geht aus einer neuen Studie hervor. Corona hat die Entwicklung befeuert. Die Autoren warnen vor einem Risiko für die Demokratie.

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Es ist ein Befund mit sozialpolitischer Sprengkraft: Die Einkommen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt – und es gibt Indizien dafür, dass sich diese Entwicklung seit der Pandemie beschleunigt hat. So lag die Armutsquote im Jahr 2022 hierzulande bei 16,7 Prozent. Als arm gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Für einen Ein-Personen-Haushalt bedeutet das ein verfügbares Einkommen von maximal 1.200 Euro.

Von "strenger Armut" – also einem verfügbaren Einkommen unter 1.000 Euro bei Singles – sind 10,1 Prozent der Deutschen betroffen. Das geht aus dem neuesten Verteilungsbericht hervor, den das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung jetzt vorgestellt hat.

Corona war ein Armutsbeschleuniger

Von 2020, dem Beginn der Pandemie, bis 2021 ist die Armutsquote von 16,2 auf 16,9 Prozent gestiegen. In 2019, dem letzten Jahr vor Corona, lag der Wert noch bei 15,9 Prozent. Zuletzt ist die Armutsquote wieder leicht auf 16,7 Prozent gesunken. Die Studienautoren vermuten, dass die Hilfspakete des Staates in der Krise hier eine Rolle spielen.

Aber: Im Vergleich zum Basisjahr 2010 ist die Armut in Deutschland merklich gestiegen. Damals lagen die Quoten noch bei 14,5 beziehungsweise 7,7 Prozent strenger Armut. Und es gilt nach wie vor: Überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind Arbeitslose, Minijobber, Ostdeutsche, Frauen, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund, Singles und die Gruppe derer, die maximal einen Hauptschulabschluss vorweisen können.

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Dass die Schere zwischen Arm und Reich beim Einkommen auseinander geht, unterfüttert der Bericht mit Daten. So lag das Einkommen im obersten Fünftel der Gesellschaft zwischen 2010 und 2019 meist 4,3-mal so hoch wie im untersten. Dieser Wert ist 2020 auf 4,5 gestiegen, 2021 lag er bereits bei 4,7 und ist im letzten Jahr wieder leicht auf 4,6 gesunken. Der sogenannte Gini-Koeffizient, der Ungleichheit misst, liegt für Deutschland bei 0,3. Zur Einordnung: Ein Gini-Koeffizient von 0 bedeutet, dass alle Menschen gleich viel besitzen. Ein Koeffizient von eins bildet das Gegenteil ab: Eine Person besitzt alles, der Rest nichts.

Was Armut in einem reichen Land wie Deutschland bedeutet

Armut, auch das geht aus dem WSI-Bericht hervor, bedeutet in einem reichen Land wie Deutschland nicht nur, über wenig Geld zu verfügen. Arme Menschen machen sich deutlich häufiger Sorgen um ihre Gesundheit und sind mit ihrem Leben unzufriedener. Ein Gefühl der Stigmatisierung geht damit einher. So sagt jeder Vierte dauerhaft Arme, also Menschen, die fünf oder mehr Jahre in diese Kategorie fallen, von anderen geringgeschätzt zu werden.

Materielle Armut und das Gefühl, am Rand der Gesellschaft zu stehen, untergräbt das Vertrauen in demokratische Institutionen, halten die WSI-Autoren fest. So zeigt sich: Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in Parteien und Politiker. Rund ein Drittel vertraut dem Rechtsstaat allenfalls in geringem Maße. Im Vergleich dazu äußern nur 19 Prozent der Einkommensreichen ein geringes Vertrauen in die Politik.

"Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht mehr wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das politische System verlieren, dann leidet darunter auch die Demokratie", sagen die Studienautoren Jan Brülle und Dorothee Spannagel.

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Was folgt daraus?

Wohl wenig überraschend: Die gewerkschaftsnahen Forscher empfehlen eine "Politik gegen Armut und soziale Spaltung". Das heißt konkret, dass die Grundsicherung auf ein "armutsfestes Niveau" angehoben werden müsse.

Beim Einstieg ins Bürgergeld sei das nicht passiert. Außerdem müsste die Tarifbindung gestärkt, mehr in Qualifizierung investiert, der Mindestlohn stärker erhöht werden und generell das Lohnniveau steigen.

WSI-Forscher: Reiche stärker besteuern

Die WSI-Forscher kritisieren, dass reiche Haushalte seit Mitte der 1990er Jahre systematisch entlastet wurden. Angesichts der aktuellen Krisen und des Vertrauensverlustes in demokratische Institutionen sei es erforderlich, dass "starke Schultern" wieder mehr tragen müssten. Als Ansätze empfehlen die Wissenschaftler, den Spitzensteuersatz wieder anzuheben, eine progressive Vermögenssteuer einzuführen und die Schlupflöcher in der Erbschaftssteuer zu schließen. "Es geht nicht darum, die Steuern für die Mitte der Gesellschaft zu erhöhen; es sind die Reichen und Reichsten dieser Gesellschaft, die einen größeren Beitrag zu unserem Gemeinwohl leisten müssen", sagen die Studienautoren Brülle und Spannagel.

Doch mit dieser Forderung dürften sie zumindest bei der Ampel-Koalition nicht durchdringen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat erst kürzlich bei einer Veranstaltung angemahnt, den Wohlfahrtsstaat zu beschneiden. "Es ist zu viel Verteilung, es ist zu viel Sozialpolitik, da müssen wir ran", sagte der FDP-Chef.

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