Nach dem Tod von Anis Amri gibt es weiter ungeklärte Fragen. Noch immer ist unklar, warum der als Gefährder eingestufte Terrorist nicht inhaftiert wurde. Und wie es ihm gelang, unentdeckt durch Europa zu reisen – Antworten.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm die Politik nach dem Ende der Flucht des Berlin-Attentäters Anis Amri in die Pflicht: "Wir werden prüfen, inwieweit staatliche Maßnahmen geändert werden müssen."

Der junge Mann, für einen Tag der meist gesuchte Terrorist Europas, ist tot. Merkel habe Bundesinnenminister Thomas de Maizière gebeten, die Ergebnisse einer umfassenden Analyse möglichst bald vorzulegen. Maßnahmen, auch gesetzliche, sollten dann schnellstmöglich umgesetzt werden.

Dabei dürfte es auch darum gehen, wie künftig mit den laut Bundeskriminalamt (BKA) mehr als 500 Gefährdern hierzulande umgegangen werden soll. Unsere Redaktion beleuchtet die wichtigsten Fragen.

Wieso wurde Anis Amri nicht inhaftiert?

Genau dieser Punkt sorgte nach der Tat Unverständnis. "Diese Frage müssen Sie den Ermittlungsbehörden stellen. Nach § 100a StPO ist hier eine entsprechende Telekommunikationsüberwachung angemeldet und durchgeführt worden", erklärt Rechtsexperte Prof. Dr. Ernst Fricke auf Nachfrage unserer Redaktion. "Mithin sind die Ermittlungsbehörden selbst von einer in § 100a Abs. 2 StPO bezeichneten 'schweren Straftat' ausgegangen. Ein Haftgrund liegt im Übrigen bei einem ausländischen Verdächtigen immer vor."

Doch warum war Amri auf freiem Fuß? Nach Informationen von "Focus Online" gehörte der 24-Jährige einem Terror-Netzwerk um den inzwischen inhaftierten Abu Walaa. Der Hassprediger soll 2015 Anschläge in Deutschland geplant haben.

Schon in einem Eintrag zur verdeckten Fahndung vom 5. Februar hieß es laut "Spiegel Online", dass es einen "mutmaßlichen Bezug zum IS" gebe und eine "intensive Kontrolle der Person" vorgeschlagen werde.

Doch die Polizei wurde Amri lange nicht habhaft, Pflichttermine beim BAMF ignorierte dieser, zudem wechselte er seine Aufenthaltsorte. Dabei war seine Duldung auf ein Bundesland beschränkt, in diesem Fall Nordrhein-Westfalen.

"Spiegel Online" zufolge, hätten es die Behörden versäumt, striktere Meldeauflagen zu erlassen. Das Aufenthaltsgesetz gebe die Möglichkeit, den Bewegungsradius potenziell gefährlicher, abgelehnter Asylbewerber drastisch einzugrenzen. So hätte man Amri vorschreiben können, sich täglich bei der Polizei zu melden.

Welche Rolle spielt das LKA NRW und wer leitete die Ermittlungen?

Vor allem das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen und NRW- Innenminister Thomas Jäger (SPD) müssen sich schwere Versäumnisse vorhalten lassen. FDP-Chef Christian Lindner sprach von "Staatsversagen".

Doch lag die Schuld tatsächlich in NRW? Es gibt offenbar Kompetenzüberlagerungen. "Das Polizeirecht ist weitgehend Landesrecht und insoweit sind die Bundesländer unterschiedlich. Aus den Polizeigesetzen der Länder ergibt sich, was zur 'Gefahrenabwehr im juristischen Sinne' gemacht werden darf, wozu auch die 'Ingewahrsamnahme/Festnahme von Personen' zur Gefahrenabwehr dient", schildert Jurist Fricke. "Hier müssen Sie das LKA NRW fragen. Auch das Bundeskriminalamt könnte dazu sicherlich etwas sagen. Bei solchen Delikten hat das Bundeskriminalamt eine länderübergreifende Aufgabe und Funktion."

BKA und LKA stehen demnach beide in der Verantwortung. Markant: Seit Juli 2016 soll das Landeskriminalamt NRW von Attentatsplänen gewusst haben. Seit 14. März 2016 ermittelte wiederum die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin gegen Amri wegen des Verdachts der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat.

Anzeichen auf Terrorplanungen gab es jedoch nicht. Damit entfiel die rechtliche Grundlage für eine Verlängerung der Überwachung, sie wurde im September abgebrochen. Deshalb kam es wohl letztlich nicht zu einer Inhaftierung.

Warum wurde Anis Amri nicht ausgewiesen, obwohl er in Abschiebehaft saß?

Fakt ist: Am 30. Juli wurde Amri in Baden-Württemberg aufgegriffen. Ein Amtsrichter in Ravensburg ordnete eine Abschiebehaft an, Amri kam in die JVA Ravensburg. Das baden-württembergische Justizministerium bestätigte "Focus Online", dass Anis Amri jedoch nicht abgeschoben wurde.

Der Grund sei demnach: Am 1. August um 16.59 Uhr ordnete die zuständige Ausländerbehörde Kleve in NRW an, dass er entlassen werden soll. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktionsfraktion Stephan Mayer erklärte "Focus Online", dass es Zweifel an seiner Staatsangehörigkeit gegeben habe.

Mayer: "Daher musste der Mann aus juristischen Gründen bereits nach einem Tag wieder freigelassen werden. Bis dann zweifelsfrei festgestellt werden konnte, dass er tunesischer Staatsangehöriger war, hatte sich der Mann bereits von dannen gemacht."

Laut Fricke müsse jetzt geklärt werde, ob es eine richterliche Entscheidung gab. "Normalerweise reicht ein "fehlender Pass" nicht aus, um aus der Abschiebehaft entlassen zu werden", erklärt der Rechtsexperte aus Landshut.

Wie konnte Anis Amri unentdeckt durch Europa reisen?

"Bild.de" zeichnete die mutmaßliche Fluchtroute nach. Sie führte angeblich von Berlin über Nordrhein-Westfalen nach Paris. Aus der französischen Hauptstadt ging es über Lyon nach Chambéry nahe der Schweizer Grenze und von dort schließlich über Turin nach Mailand.

Von derselben Reiseroute berichtet das italienische Nachrichtenportal "repubblica" und verweist auf ein Zugticket, das bei Amri gefunden worden sei. Die Fehler wurden offenbar in Deutschland gemacht.

Erst am Dienstagnachmittag - die Tat geschah am Montagabend - fanden die Ermittler im Lkw eine Duldungsbescheinigung. Der Grund: Zuerst sollten Spürhunde in der Führerkabine den Geruch des Verdächtigen aufnehmen.

Erst in der Nacht auf Mittwoch lösen die Behörden eine Fahndung aus, zunächst aber nicht öffentlich. Zwischen öffentlicher Fahndung und Anschlag waren am frühen Mittwochabend schließlich fast 48 Stunden vergangen.

Die deutschen Behörden gehen zudem von einem Netzwerk aus, das Amri half, die Ermittlungen gingen "derzeit gegen Unbekannt weiter", sagte Generalbundesanwalt Peter Frank. Deutschland erwartet weitere Antworten.

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