Am 31. Juli 1919 verabschiedete die Nationalversammlung in Weimar die erste demokratische Verfassung der deutschen Geschichte. Doch schon vierzehn Jahre später wurde sie von den Nationalsozialisten zerstört. Ist die heutige Verfassung stabiler? Oder ist auch die bundesdeutsche Demokratie bedroht? Wir sprachen mit Dr. Andreas Braune, dem stellvertretenden Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Universität Jena.
Herr Dr. Braun, am 31. Juli, am hundertsten Geburtstag der Weimarer Verfassung, wird in Weimar feierlich das Haus der Weimarer Republik eröffnet. Deutschland feiert Weimar – aber Weimar ist im Fiasko der Nazidiktatur untergegangen. Ist die Verfassung, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, besser?
Dr. Andreas Braune: Diese Frage wird sehr oft gestellt. Vor allem im Geschichtsunterricht wird oft und lange dargestellt, was die Weimarer Republik falsch gemacht hat und was 30 Jahre später die "Väter des Grundgesetzes" besser gemacht haben.
Wo sind die Unterschiede?
Zunächst ist die Kontinuität hervorzuheben: Das Grundgesetz baut in vielem auf der Weimarer Verfassung auf. Man hat aber auch Veränderungen vorgenommen, etwa bei der Stellung des Bundespräsidenten. Er wird nicht mehr direkt gewählt und verfügt auch nicht mehr über das Notverordnungsrecht. Das war von Hindenburg bei der Zerstörung der Republik gegen den Sinn der Verfassung missbraucht worden.
"Die Weimarer Verfassung war modern, ausgewogen, demokratisch"
Waren die Nachkriegsdeutschen aus der Nazizeit klüger geworden?
Sie hatten historisch gelernt, aber es ist trotzdem ein Trugschluss, dass die Weimarer Verfassung schlecht war. Die Nationalversammlung im Jahr 1919 hatte die historischen Erfahrungen nicht, die der Parlamentarische Rat 30 Jahre später aus der Zerstörung der Weimarer Republik gewonnen hatte. Die Weimarer Verfassung war, gemessen an der vorherigen Verfassung des Kaiserreichs, sehr modern, sehr ausgewogen, sehr demokratisch. Sie war eine sehr große Leistung für die damalige Zeit.
Woran ist sie dann gescheitert?
Sie ist nicht gescheitert, sondern sie wurde gezielt zerstört. Eine Demokratie ist nur so stark, wie die Bürger und die Eliten von ihr überzeugt sind. Das war in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in weiten Teilen nicht der Fall. Und die Rahmenbedingungen waren wesentlich schlechter als heute.
Sie meinen die Wirtschaftskrise?
Die ökonomischen Probleme der Weimarer Republik waren enorm. Die Reparationsforderungen der Alliierten wären in normalen Zeiten zu bezahlen gewesen. Aber 1923 kam die Hyperinflation und vom Ende der 20er- bis zur Mitte der 30er-Jahre die Weltwirtschaftskrise. Das Ganze war verbunden mit sehr hoher Arbeitslosigkeit. Und all das hatte sehr viel größere soziale Folgen als alles, was wir heute an Problemen haben.
Trotzdem haben wir eine starke Zunahme rechtsorientierter Gruppen und Parteien in Deutschland.
Bis zu einem gewissen Grad halten das politische System und die Demokratie das aus. Aber wenn solche Bewegungen tonangebend und politisch entscheidend werden, dann wird’s gefährlich.
"NSU-Morde und Mord an Lübcke wecken tatsächlich Erinnerungen an Weimar"
Sehen Sie heute Parallelen zu Weimar, ist die demokratische Verfassung bedroht?
Da schlafe ich noch relativ ruhig. Was uns von Weimar stark unterscheidet, ist ein herausgebildeter demokratischer Konsens, geteilt von einem Großteil der Bevölkerung und auch von den Eliten des Landes – sie alle stehen auf demokratischem Boden. In der Weimarer Republik gab es das noch nicht.
Sie war eine Transformationsgesellschaft, die den Konsens erst hätte herstellen müssen. Maßgebliche Teile der Gesellschaft haben stattdessen die Demokratie abgelehnt oder sogar bekämpft – vor allem die Eliten: Justiz, Verwaltung, Militär, Hochschulen, die Medien. Diese Eliten habe die Bevölkerung gegen die Demokratie aufgestachelt.
Das übernehmen heutzutage die Populisten...
Ja, es sind heute sozusagen Teile der Bevölkerung selbst, die gegen die Demokratie hetzen mit Schimpfworten wie dem von den "Systemmedien" – als ob das System schlecht wäre. Die populistischen Bewegungen greifen heute die Eliten und den demokratischen Konsens an.
Und es kommt auch zu Gewalt gegen politische Gegner, auch das ist eine Parallele zu Weimar.
Ja. Allerdings war die Brutalisierung der Gesellschaft damals auf deutlich höherem Niveau. Nach vier Jahren Krieg, auch nach der Gewalt während der Revolution, war am Anfang der Weimarer Republik physische Gewalt ein normales Mittel der politischen Auseinandersetzung. Politische Gegner wurden zu existenziellen Feinden gemacht, es herrschte eine Ausrottungsterminologie. Verglichen damit leben wir heute in einer sehr zivilen Gesellschaft.
Erhebliche Warnsignale sehe ich allerdings mittlerweile auch bei uns. Vor allem im politischen Diskurs im Internet, wo die Hemmschwellen immer niedriger werden, wo die Grenzen des Sagbaren systematisch verschoben werden, wo die Androhung von physischer Gewalt wieder "normal" wird.
Die Morde des NSU, der Mord an Walter Lübcke wecken tatsächlich Erinnerungen an Weimar. Die Ermordung führender Politiker, etwa von Finanzminister Matthias Erzberger oder Außenminister Walter Rathenau, war gerade zu Beginn der Republik die Strategie rechter Terrorgruppen.
Kann eine gute Verfassung gegen die Bedrohung von rechts helfen?
Wichtig ist der demokratische Konsens. Den kann die Verfassung allein nicht herstellen. 70 Jahre nach Ende des letzten Krieges hält die jüngere Generation viele Dinge für selbstverständlich.
Ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit im Haus der Weimarer Republik, das am 31. Juli eröffnet wird, wird daher die politische Bildung sein. Irgendjemand hat mal gesagt: "Wer in der Demokratie schläft, der wacht in der Diktatur auf". Dem müssen wir entgegenarbeiten.
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