- Jörg Pawlowski ist Vorsitzender des Klinikpersonalrats der Berliner Charité und als solcher insbesondere für die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte zuständig
- Im Interview spricht er über die extremen Bedingungen, unter denen das medizinische Personal derzeit arbeitet
- Von einer Impfzurückhaltung ist bei den Pflegekräften der Charité seinen Angaben zufolge nichts zu spüren
Herr Pawlowski, wieder knapp 20.000 Coronavirus-Neuinfektionen (Stand: 13.1.) am Tag in Deutschland, wieder mehr als 1.000 Todesfälle, weiterhin eine rund 25-prozentige Belegung von Intensivbetten mit COVID-19-Patienten – das sind die aktuellen, nackten Zahlen der Pandemie. Sie erleben jeden Tag, was diese Zahlen bedeuten. Wie kommen Ärztinnen und Pfleger in der Berliner Charité mit der Situation zurecht?
Jörg Pawlowski: Die Menschen, die hier arbeiten, stehen unter einem hohen psychischen und physischen Druck. Wir haben hier sehr viele schwere Verläufe. Es gibt Tage, da stirbt ein Mensch nach dem anderen. Das streift man nicht einfach so ab, wenn man nach Hause geht. So etwas wie eine Sterbebegleitung, wie sie unter normalen Umständen passiert, gibt es im Moment kaum mehr. Das alles belastet Ärzte und Pflegekräfte sehr.
Bereits vor der Pandemie fehlten vielerorts Pflegekräfte, nun ist die Belastung besonders hoch. Bekommen Sie die Dienstpläne gefüllt, ohne dass die Kolleginnen und Kollegen permanent Überstunden machen müssen?
Wir bekommen die Dienstpläne gefüllt und 12-Stunden-Schichten oder Ähnliches gibt es bei uns nicht, das haben wir als Klinikpersonalrat direkt zu Beginn der Pandemie mit der Klinikleitung so besprochen. Trotzdem: Die Situation in der Pflege war vorher schon angespannt und ist es jetzt umso mehr. Wir können das nur stemmen, indem Personal aus anderen Abteilungen wie zum Beispiel der Orthopädie oder der Urologie bei der Behandlung der COVID-19-Patienten einspringt. Sie müssen eingearbeitet werden, aber die Einarbeitungszeit ist kurz, selbst für den Umgang mit komplizierten, organersetzenden Maschinen wie der ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung; eingesetzt bei akutem Lungenversagen, Anm. d. Red.). Es ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Unter normalen Umständen würde sich eine Pflegefachkraft pro Schicht um einen, maximal zwei solcher schwerkranker Patienten kümmern. Das schaffen wir derzeit nicht.
Ein Teil der Gesellschaft blendet die Pandemie einfach aus
Melden sich die Kolleginnen und Kollegen der anderen Stationen freiwillig?
Ja, das geht aus unserer Sicht gar nicht anders. Arbeitet man hier mit Druck oder versucht, Menschen in Situationen zu schicken, die sie nicht aushalten können und wollen, riskiert man, dass sie selbst erkranken, etwa an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Ende November sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, er gehe davon aus, dass in personellen Notsituationen einige Ärzte und Pflegekräfte trotz einer akuten Coronavirus-Infektion zur Arbeit gehen. Ist das bei Ihnen auch ein Thema?
Nein, wir sind Profis und wissen um unsere Verantwortung. Denn jeder, der mit einer solchen Infektion zur Arbeit in die Klinik kommt, bringt Menschenleben in Gefahr. Bei uns gibt es an jedem Standort Mitarbeiter-Abstrichstellen und wenn es den Verdacht gibt, dass jemand Kontakt mit einer infizierten Person hatte, wird ein Abstrich gemacht und der- oder diejenige geht nach Hause, bis das Ergebnis da ist. Ist es positiv, heißt das zwei Wochen Quarantäne.
Finden Sie, dass die schwierige Lage in den Krankenhäusern, die schweren Verläufe, die Härtefälle der Pandemie in der breiten Gesellschaft genügend Beachtung finden? Es wirkt fast, als gäbe da zwei Realitäten, die sich kaum überschneiden.
Ich sehe auch, dass ein Teil der Gesellschaft das offenbar hervorragend ausblenden kann, und zwar nicht nur die wirklichen Corona-Leugner. Das geht schon bei Menschen los, die mit ihrer Maske nur den Mund, aber nicht die Nase bedecken. Ich sehe das auch daran, dass in öffentlichen Verkehrsmitteln niemand Menschen ohne Maske anspricht – vielleicht auch, weil sich niemand traut. Manche Menschen würde ich wirklich gerne einmal mitnehmen auf eine Intensivstation, damit sie sich die Patienten ansehen, wie sie an Beatmungsgeräten um ihr Leben kämpfen, mit zentralvenösen Zugängen, an Maschinen mit Lungen- und Nierenersatzfunktion.
"Die Impfbereitschaft unserer Ärzte und Pfleger ist sehr hoch"
Vor einigen Tagen gingen Zahlen und Statements zur Impfbereitschaft des medizinischen Personals herum. Wissen Sie, wie groß die Impfbereitschaft von Ärzten und Pflegern in Ihrem Haus ist?
Die Impfbereitschaft unserer Ärzte und Pfleger ist sehr hoch, bei ungefähr 95 Prozent. Alles, was wir an Impfstoff bekommen, verimpfen wir sofort - zunächst an die Belegschaft in den Bereichen mit Corona-Patienten und in den Rettungsstellen. Da in Berlin aber nicht das gesamte Klinikpersonal bei der Impfreihenfolge ganz oben steht, wird es wohl einige Monate dauern, bis alle Mitarbeiter geimpft sind.
Vor einigen Monaten hatten Sie in einem Interview die Hoffnung geäußert, dass die Pandemie der Pflege mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung und damit auf längere Sicht auch bessere Arbeitsbedingungen bringt. Was hat sich seitdem getan?
Ich gehe davon aus, dass alle Versprechungen, die im vergangenen Jahr gemacht wurden, vergessen sein werden, wenn die Pandemie vorbei ist. Auch der Kompromiss bei den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst im Herbst war aus meiner Sicht ein Schlag ins Gesicht der Pflegekräfte. In Deutschland wird die Pflege nach wie vor als Assistenz zur Ärzteschaft gesehen, dabei sind Pflegefachkräfte absolute Profis. Wird ihr Wert für die Gesellschaft nicht erkannt, sage ich voraus, dass spätestens nach der Pandemie viele Menschen in diesem Beruf aufhören werden, weil sie sich sagen: Unter diesen Bedingungen möchte ich nicht arbeiten.
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