Seit vier Monaten wütet das Coronavirus schon. Genauso lange wird weltweit zu dessen Verbreitungswegen geforscht. Wenn aber über Wiedereröffnungen von Schulen, Kitas und Spielplätzen diskutiert wird, bleibt ein Problem: Es ist bisher fast nichts zur Rolle von Kindern in der Coronavirus-Pandemie bekannt.

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In Deutschland steigt die Summe der seit dem Beginn der Coronavirus-Pandemie Infizierten nur noch langsam an. Auffällig: Zwar sind etwa 13 Prozent aller Bundesbürger unter 14 Jahre alt, diese Altersgruppe macht nur drei Prozent der erfassten Corona-Erkrankten aus.

Klar ist, auch Kinder erkranken an COVID-19. Sie scheinen genauso wahrscheinlich infiziert zu werden wie Erwachsene, haben aber ein wesentlich geringeres Risiko als Erwachsene, Symptome zu entwickeln oder ernsthaft zu erkranken.

Breitet sich so das Virus möglicherweise unentdeckt aus? Wie ansteckend sind Kinder überhaupt? Und sind sie, wie teils befürchtet, sogar ein bedeutender Überträger?

Noch immer gibt es große Unsicherheiten bei der Beantwortung dieser Fragen.

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Kinder tragen zur Verbreitung von COVID-19 bei

Bundesweit öffnen immer mehr Schulen, Bayern hat die Notbetreuung von Kindern seit Montag ausgebaut und Berlin will am Donnerstag wieder die Spielplätze öffnen.

Laut Robert Koch-Institut sprechen mehrere Faktoren dafür, "dass Kinder – wie bei anderen respiratorisch übertragbaren Erkrankungen – relevant zu einer Verbreitung von COVID-19 beitragen". In einem RKI-Bericht heißt es: "Auf Grund der verschiedenen und engen außerschulischen Kontakte ist zudem von einem Multiplikatoreffekt mit Ausbreitung in den Familien und nachfolgend in der Bevölkerung auszugehen."

Die schrittweise und ans Alter der Kinder angepasste Öffnung von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen sei dennoch derzeit aus fachlicher Sicht vertretbar, sagte RKI-Vizepräsident Lars Schaade am Freitag in Berlin.

"Lücke nicht nur in Deutschland"

Der SPD-Gesundheitspolitiker und Epidemiologe Karl Lauterbach hält hingegen die Öffnung von Spielplätzen für verfrüht. Denn die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass Kinder Virenschleudern sind, sogenannte Superspreader – ohne selbst gesundheitlich arg davon betroffen zu sein.

"Wir haben keine Studie gemacht, wo wir kontrolliert geprüft haben, ob Kinder die Ursprünge von Infektionen bei den Eltern sind", betonte Lauterbach vergangenen Montag in der ARD-Talkshow "Hart aber fair".

Zwar müsse man eine solche Fragestellung aufgrund der durchaus unterschiedlichen Familiensituationen landesspezifisch prüfen. Aber selbst "international gibt es dazu nichts", sagte Lauterbach. "Diese Lücke existiert nicht nur in Deutschland." Weder in China noch in Südkorea sei eine solche Studie gemacht worden. "In Italien war das nicht zu verlangen", sagte der 57-Jährige.

Drosten bedauert fehlende Studien

Der Berliner Virologe Christian Drosten "bedauert" den Zustand. Allerdings bemerkte er am Freitag in einem ORF-Interview mit Blick auf Deutschland: "Wenn kein Schulbetrieb ist, kann man in der Schule auch keine Untersuchungen anstellen."

Innerhalb von Familien gebe es "einige wenige" Nachuntersuchungen, erklärte Drosten. Allerdings seien diese Ergebnisse "nichts ganz konsistent", es gibt also sich widersprechende Aussagen.

Demnach habe einerseits eine Studie keinen Unterschied in der Ansteckungsrate zwischen Kindern und Erwachsenen festgestellt. Andererseits gebe es eine niederländische Studie: "Dort sieht es so aus, als seien Kinder in Familien viel weniger betroffen". Drosten warnte vor dem Ergebnis, es müsse noch mehr untersucht werden.

Ämter hätten keine Zeit für wissenschaftliche Untersuchungen

Virologe Drosten bestätigt wie Epidemiologe Lauterbach, dass man nach wie vor nicht wisse, ob und wie stark Kinder überhaupt ansteckend sind.

Der Direktor des Instituts für Virologie der Charité in Berlin erklärt, warum die Datenlage in der Bundesrepublik so schlecht sei: Das Sammeln der Daten würde häufig in der Hand der Ämter liegen. "Die Gesundheitsbehörden haben aber alle Hand voll zu tun, überhaupt die Übertragungen zu verhindern", sagt Drosten. Sie hätten häufig schlicht keine Zeit, "nebenher wissenschaftliche Untersuchungen zu machen – sie sind einfach überlastet".

Entscheidungsgrundlage fehlt: Schulschließungen notwendig?

Ohne sicher zu wissen, ob Kinder überhaupt eine wichtige Rolle in der Coronavirus-Pandemie spielen, werden derzeit Schließungen und Wiedereröffnungen von Schulen, Kita oder Spielplätzen beschlossen.

Die Entscheidungen haben durchaus weitreichende Folgen, können doch die Einschränkungen wegen der Coronakrise nach Befürchtung von Medizinern die Entwicklung von Kindern beeinträchtigen. "Durch das Kontaktverbot und das Eingesperrtsein drohen psychosoziale Schäden", sagte Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) der Deutschen Presse-Agentur.

Wenn Kinder nun monatelang nicht in die Kita oder Schule könnten, weder Freunde treffen noch auf Spielplätze gehen dürften, sei dies ein schwerer Eingriff in ihre Lebenswelt, kritisierte Fischbach.

Aussagekräftige Daten über Coronavirus in drei Wochen?

Dieses Risiko steige, je länger die Maßnahmen andauerten – doch dafür braucht es wissenschaftliche Erkenntnisse über die Corona-Verbreitung bei und durch Kinder.

Drosten hält die Situation "so langsam nicht mehr erträglich". Er forderte: "Wir brauchen jetzt ganz dringend diese Daten." So lange diese nicht da seien, könne man nur indirekt Schlüsse ziehen.

Immerhin, einen Hoffnungsschimmer gebe es: Laut dem Virologen soll es in den kommenden zwei, drei Wochen "solide Daten" geben. "Dann können wir vernünftige Entscheidungen treffen – es wird allerhöchste Zeit." (mf/dpa)

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