Um die Gesundheit von Kindern zu schützen, plant Ernährungsminister Cem Özdemir ein Werbeverbot für Junkfood. Für die Lobby steht viel auf dem Spiel. Die Kampagne der Lebensmittelindustrie läuft seit Wochen auf Hochtouren. Zentrale Argumente im Faktencheck.
Auslöser der Debatte ist ein Gesetzesvorhaben von Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne): Werbung für Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Fett- oder Salzgehalt möchte er damit weitgehend einschränken. Das Gesetz soll dafür sorgen, dass sich Kinder künftig gesünder ernähren.
Werbeverbot: Darum geht's
Keinesfalls ziele die Werbung für ungesunde Produkte auf Kinder ab, beteuert dagegen die Lebensmittelbranche. Schließlich gebe es Selbstverpflichtungen: Werbung für Kinder unter 13 Jahren ist demnach nur erlaubt, wenn die Produkte selbst gesteckte Grenzwerte für Zucker, Salz und Fett einhalten. Nur: Die Versprechen funktionieren nicht. Das zeigen zahlreiche Studien immer wieder. Jedes mediennutzende Kind sieht in Deutschland durchschnittlich 15 Werbungen für ungesunde Lebensmittel – täglich. Von der gesamten Lebensmittelwerbung, die Kinder im TV und im Internet konsumieren, betreffen 92 Prozent ungesunde Produkte.
Es ist nicht so, dass die Industrie nicht genug Zeit gehabt hätte, den Absichtserklärungen der letzten Jahre auch Taten folgen zu lassen. Weder bei einer gebotenen Zurückhaltung bei den Werbemaßnahmen noch bei der versprochenen Zuckerreduktion bei Softdrinks hat sich merklich etwas gebessert.
Die Lebensmittelwirtschaft hält dagegen. Sie hat eine breit angelegte Kampagne gegen den Gesetzentwurf gestartet, flankiert von Interviews, Pressestatements und Anzeigen.
Argument: Werbung habe gar keinen Einfluss
Die Werbung habe keinen Einfluss auf die Kaufentscheidung, lässt die Lebensmittelindustrie verlauten. Warum verzichtet die Industrie dann nicht auf die immensen Werbeausgaben? Über eine Milliarde Euro lässt die Industrie für Kinder und Erwachsene jährlich springen, nur um Süßwaren anzupreisen.
"Lebensmittelwerbung beeinflusst die Präferenzen, das Kaufverhalten, die Essensauswahl und das Essverhalten von Kindern. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen diese Zusammenhänge übereinstimmend", sagt das Wissenschaftsbündnis Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK). Die WHO und UNICEF bewerten die Evidenz für den Einfluss der Werbung sogar als "eindeutig" ("unequivocal"). Zudem zählt die WHO Werbebeschränkungen zu den wichtigsten Maßnahmen gegen die Adipositas-Epidemie.
Argument: Wir Menschen seien auf süß geprägt
"Geprägt sind die Kinder von vornherein auf Süßes, weil süß anzeigt: Das ist nicht giftig. Das ändern Sie nicht dadurch, dass Sie den Kindern verbieten, Werbung für Fruchtjoghurt zu sehen", sagt Lebensmittel-Cheflobbyist Christoph Minhoff in einem Interview mit table media.
Ja, wir Menschen sind von Geburt an auf "süß" geprägt. Aber was bedeutet das eigentlich? Wir sind genetisch geprägt auf "süß" – süß wie Muttermilch. Muttermilch enthält etwa 7 Gramm Kohlenhydrate auf 100 Milliliter. Nur 7 Gramm! Wir Menschen sind auf "süß" geprägt – aber eben nicht auf industrielle Süßigkeiten.
Zum Vergleich: Eine hochgezüchtete Banane bringt heutzutage auf 100 Gramm schon 23 Gramm Kohlenhydrate mit – also drei Mal so viel wie in der Muttermilch. Vollmilchschokolade und Gummibärchen handelsüblicher Marken enthalten noch mehr: Bei der Schokoladenvariante sind es um die 57 Gramm Kohlenhydrate, bei Gummibärchen sogar 77 Gramm Kohlenhydrate.
Argument: Verbraucherinnen und Verbraucher müssten besser informiert werden
Die Spur der Kohlenhydrate führt schnell zu versteckten Zuckern und einem weiteren Hinweis der Lebensmittelindustrie: Verbraucher und Verbraucherinnen müssten einfach noch besser informiert werden. Bei einer Portion von 100 Gramm Gummibärchen springt der große Unterschied zwischen der ausgewiesenen Kohlenhydratmenge (77 Gramm) und den enthaltenen Zuckergehalt (knapp 46 Gramm) sofort ins Auge. Wer hätte gedacht, dass das Fruchtgummi "nur" 46 Gramm Zucker enthält? Auch der Blick auf die Nährwerttabelle kann also täuschen.
Wird Zucker in einer Zutatenliste ausgewiesen, ist damit Saccharose, also der Rüben- oder Rohrzucker gemeint. Laut Nährwertkennzeichnung (NKV) werden unter der Bezeichnung "davon Zucker" laut Lebensmittelinformationsverordnung nur alle im Lebensmittel enthaltenen Einfach- und Zweifachzucker verstanden.
Mehrfachzucker – die ebenfalls zum Zuckergehalt beitragen – tauchen dagegen nicht in der Nährwertkennzeichnung auf. Wenn zum Beispiel eine süßende Zutat wie Glukosesirup Drei- oder Vierfachzucker enthält, finden Verbraucherinnen und Verbraucher diesen nicht in der Tabelle. Erst in der Zutatenliste werden alle Zuckerarten gemäß Zuckerartenverordnung benannt, hier müssen neben den Ein- und Zweifachzuckern (zum Beispiel Rohrzucker, Rübenzucker, Milchzucker) auch die Mehrfachzucker (zum Beispiel Fruktose-Glukose-Sirup, Maltodextrin) erscheinen.
Der viele Zucker wird vor den Augen der Konsumentinnen und Konsumenten einfach weggemogelt. Auch wenn die Lebensmittelindustrie gerne anderes behauptet, hilft der Blick auf die Nährwerttabelle also nicht immer, um informierte Entscheidungen zu treffen.
Argument: Grenzwerte der WHO seien intransparent und gelten nicht als Referenz
"Wissen Sie, wer die Grenzwerte festgelegt hat? Wir wissen es nicht. Das ist völlig intransparent. Deshalb werden die WHO-Grenzwerte auch von keinem Land als Referenz herangezogen", sagt Lebensmittel-Lobbyist Minhoff.
Gemeint ist das Modell für Nährstoffprofile der WHO, welches Kinder vor Werbung schützen soll, mit der ungesunde Lebensmittel und nichtalkoholische Getränke vermarktet werden. Das WHO-Nährwertmodell wurde 2015 veröffentlicht und 2023 überarbeitet.
Fakt ist: Das aktualisierte Nährwertmodell wurde von 13 WHO-Mitgliedstaaten erprobt und angepasst, wie das WHO-Regionalbüro für Europa auf seiner Webseite mitteilt. In Deutschland machen Lidl Deutschland und Aldi Süd das WHO-Modell bereits zur Grundlage für freiwillige oder verbindliche Beschränkungen der Werbung für Lebensmittel. Auch in Portugal, Türkei und Slowenien kommt es zum Einsatz, weitere Staaten wie Spanien planen es.
Das WHO-Modell teilt dabei Nahrungsmittel in 18 Gruppen ein und definiert kategorienspezifische Grenzwerte für Zucker, Fett, Salz oder Süßstoffe, um Produkte mit einer hohen Nährwertqualität zu identifizieren. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität München haben die Auswirkungen zusammen mit der DANK untersucht. Das Fazit: Das geplante Gesetz könne funktionieren, die Aussagen der Werbeindustrie seien nicht haltbar.
Wie es nun weitergeht
Das BMEL hat einen Gesetzentwurf erarbeitet, der aktuell mit den anderen Ressorts der Bundesregierung abgestimmt wird. Danach werden die Länder und Verbände konsultiert und die Stellungnahmen ausgewertet. Der überarbeitete Entwurf wird anschließend der EU-Kommission zur Notifizierung vorgelegt. Der Bundestag muss den Entwurf beschließen, damit das Gesetz in Kraft treten kann.
Die Herstellung von Lebensmitteln mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt bliebe auch mit dem neuen Gesetz möglich. Werbung bleibt ebenso zulässig, sofern sich diese nicht an Kinder richtet. Werbetreibende können weiterhin gegenüber Kindern für Lebensmittel werben, die keinen zu hohen Gehalt an Zucker, Fett oder Salz haben.
Was Junkfood mit der Klimakrise zu tun hat
Unsere Ernährung wirkt sich nicht nur auf die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen aus, sondern auch auf unsere Umwelt. Grundsätzlich schneiden frische, saisonale und regionale Lebensmittel im ökologischen Vergleich besser ab als hochverarbeitete Lebensmittel, die stark beworben werden, wie etwa Schokolade.
Damit die Grenzen des Planeten eingehalten werden, müsste der Konsum von Obst und Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen ungefähr verdoppelt werden, der Verzehr von Fleisch und Zucker dagegen halbiert werden.
Um alle Menschen dieser Erde bis zum Jahr 2050 nachhaltig und gesund zu ernähren, ist eine grundlegende Veränderung unserer Landwirtschaft und Ernährungsweise nötig. Das zeigt ein im Januar 2019 veröffentlichter Report der EAT-Lancet-Kommission. Der Kommission gehören 37 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und 16 Ländern an, darunter Klimaforscherinnen und Ernährungswissenschaftler.
Das Ziel der Forschenden: eine wissenschaftliche Grundlage für einen Wandel des globalen Ernährungssystems. Herausgekommen ist dabei die Planetary Health Diet, ein Speiseplan, der die Gesundheit des Menschen und des Planeten gleichermaßen schützen könnte.
Ein offenes Geheimnis ist zudem, dass in der Süßwarenbranche besonders viele Produkten in Plastik eingeschweißt oder stückweise einzeln verpackt werden. Plastik gilt als Klimakiller.
Verwendete Quellen:
- Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Özdemir stellt Gesetzesvorhaben für mehr Kinderschutz in der Werbung vor und FAQs zum Gesetzentwurf für an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung
- WHO: WHO Regional Office for Europe nutrient profile model
- AOK: Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel in Internet und TV
- Verbraucherzentrale: Freiwillige Selbstverpflichtung bei Kinderlebensmitteln wirkungslos
- Lieber mündig: Gegen Werbeverbote für Lebensmittel
- Wissenschaftsbündnis Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK): www.lieber-mündig.de im DANK-Faktencheck
- Table Media: "Kinder sind von vornherein auf Süßes geprägt"
- WHO: Neue WHO-Leitlinien für den Schutz von Kindern vor ungesunder Lebensmittelvermarktung
- Medrxiv.org: Application of the WHO Nutrient Profile Model to products on the German market: Implications for proposed new food marketing legislation in Germany
- Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg: Ökologische Fußabdrücke von Lebensmitteln und Gerichten in Deutschland
- The Lancet: Food in the Anthropocene: the EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems
- Nature: Growing environmental footprint of plastics driven by coal combustion
© RiffReporter
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