"Verborgener Hunger" nennen Hilfsorganisationen die Mangelernährung. Weil sie oft lange unerkannt bleibt, aber ähnlich gefährlich ist wie "wirklicher" Hunger. Vor allem für Kinder können die gesundheitlichen Auswirkungen schwerwiegend sein, manche sind sogar unumkehrbar.
2,77 Euro. Das ist der Betrag, den Hartz-IV-Empfänger pro Tag zur Verfügung haben, um einem bis zu 6-jährigen Kind Essen zu kaufen.
Die Society of Nutrition and Food Science, ein Netzwerk von Ernährungsexperten, macht auf diesen Betrag im Zusammenhang mit dem Problem der Mangelernährung aufmerksam.
Denn: "Verborgenen Hunger" gibt es überall, auch in reichen Ländern wie Deutschland.
Weltweit sind laut der Welthungerhilfe nahezu zwei Milliarden Menschen betroffen, viele davon Kinder. Was ihnen vor allem fehlt, sind sogenannte Mikronährstoffe wie Eisen, Jod, Zink, Vitamin A, Vitamin D und Vitamin B12.
Auswirkungen auf das Sprachzentrum
Muss der Körper lange auf diese Stoffe verzichten, hat das gesundheitliche Folgen. "Besonders gefährlich ist Mangelernährung in den ersten 1.000 Tagen eines neuen Lebens", sagt der Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski zu unserer Redaktion. "Es kann zu langfristigen Wachstums- und kognitiven Störungen kommen."
Einer der Gründe für diese kognitiven Störungen ist, dass das Gehirn in den ersten drei Lebensjahren besonders rasch wächst und sich entwickelt.
Dafür braucht es nicht nur Energie, sondern auch Nährstoffe. Fehlen diese Nährstoffe, kann das Auswirkungen auf das limbische System und den Hippocampus haben.
Diese Hirnregion ist für Gedächtnis und Sprache zuständig. Ist sie unterentwickelt, fällt das Lernen (nicht nur, aber auch) von Sprache schwerer.
Was das Gehirn braucht, sind vor allem Zink, Vitamin B12, Folsäure, Vitamin D, Eisen und Jod. Studien haben aber gezeigt, dass selbst in Deutschland viele Kinder insbesondere Folsäure, Vitamin D, Eisen und Jod nicht in ausreichendem Maß bekommen.
Mangelernährung kann zu Übergewicht führen
"Ganz allgemein kann man sagen: Fehlen in der frühkindlichen Entwicklung bestimmte Nährstoffe über längere Zeit, kann das Kind das in ihm steckende Potenzial nicht voll ausschöpfen", erklärt Biesalski.
Das Problem ist aber, dass Mangelernährung anders als Unterernährung nicht einfach am Gewicht abzulesen ist. Im Gegenteil: Mangelernährung entsteht häufig dadurch, dass gesunde Lebensmittel durch energiereiche ersetzt werden, weil sie billiger sind und trotzdem satt machen.
Kinder, die einen Mangel an Nährstoffen haben, können also durchaus normales oder auch Übergewicht haben. Ernährungsexperten nennen das dann "dual burden" (Doppelbelastung), weil Übergewicht zusätzlich krank machen kann.
Zusammenhang zwischen Armut und Mangelernährung
Doch woran liegt es, dass es in Deutschland, wo man fast zu jeder Zeit fast jedes denkbare Lebensmittel kaufen kann, Mangelernährung gibt?
Für Biesalski und seinen Kollegen Jan Frank von der Universität Hohenheim, die die Stellungnahme zur Mangelernährung gemeinsam geschrieben haben, ist die Antwort klar: Es liegt vor allem daran, dass es auch hierzulande Armut gibt.
"In Deutschland kommt einseitige Ernährung vor allem in ärmeren Familien vor", sagt Biesalski. "Weil Nudeln und Reis billiger sind als Obst und Gemüse, werden diese Lebensmittel, die eigentlich eine Sättigungsbeilage sind, immer wieder zum einzigen Gericht."
Manche Defizite können nicht mehr aufgeholt werden
Eine solche einseitige Ernährung hemmt nicht nur die Entwicklung des Gehirns bei kleinen Kindern, sondern generell das Wachstum. Das legen Studienergebnisse nahe.
So hat das Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) in Dortmund herausgefunden, dass Kinder armer Eltern weniger frisches Obst und Gemüse essen, weniger Milchprodukte und fettarmes Fleisch als Kinder gut situierter Eltern.
Nimmt man dann noch eine andere Untersuchung, wonach Kinder aus armen Familien im Schnitt kleiner sind als die aus Familien ohne Geldsorgen, lässt sich ein Zusammenhang zwischen Ernährung und Entwicklung herstellen.
Manche dieser gesundheitlichen Auswirkungen sind unumkehrbar: Weder das Hippocampus-Volumen noch das verringerte oder verzögerte Wachstum können, so Biesalski und Frank, im Erwachsenenalter wieder aufgefangen werden.
Hinzu kommt eventuell noch eine Schwächung des Immunsystems. Es gebe Studien aus Deutschland, die zeigten, dass Kinder aus ärmeren Familien häufiger krank seien, sagt Biesalski.
Reichlich Obst, mäßig Fleisch, wenig Fett
Doch was brauchen Kinder, um sich optimal zu entwickeln? Das Netzwerk "Gesund ins Leben" der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung hat eine Faustregel: reichlich Obst, Gemüse und Getränke (vor allem Wasser), mäßig Tierisches und sparsam Fettes und Süßes.
Wer es etwas konkreter und anschaulicher mag, kann sich die Ernährungspyramide des Netzwerks ansehen.
Dort heißt es, es sollen sechs Gläser Wasser pro Tag sein, fünf Portionen Obst und Gemüse, vier Portionen Getreide (also Brot, Müsli, Couscous oder Ähnliches; auch Kartoffeln werden hier mitgezählt), drei Portionen Milchprodukte, eine Portion Fisch oder Fleisch, je eine Portion Öl und Fett und eine Portion Süßigkeiten.
Das klingt sehr gut. Biesalski und seine Kollegen würden einwenden: Von 2,77 Euro lässt sich das kaum bezahlen.
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