Die aktuelle Rechtslage blockiert alles, was den Fluss des Autoverkehrs behindert. Ein Jurist erklärt, wie man mit einem kleinen Eingriff ins Straßenverkehrsgesetz mehr Chancengleichheit schaffen könnte.

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Ottensen ist ein Szeneviertel in Hamburg. Die Straßen sind schmal, die Fußwege gesäumt von Cafes, Restaurants und Geschäften von hip bis chic. Noch schöner wäre es, wenn nicht so viele Autos herumfahren oder -stehen würden. Die Bezirksregierung plant, rund ein Dutzend Straßen im Quartier ganz oder teilweise autofrei zu machen. Das Konzept dafür namens "freiRaum Ottensen" hatte die Bezirksregierung in einem Beteiligungsprozess mit den Anwohnern erarbeitet.

Im September 2022 wurde die zentral gelegene Große Brunnenstraße für Autos gesperrt. Nur Anwohner, Lieferdienste und Autofahrende mit einer Ausnahmegenehmigung durften sie noch eingeschränkt nutzen. Das missfiel einem Anwohner und einem Gewerbetreibenden. Sie klagten und das Verwaltungsgericht fand einen Formfehler. Die Verwaltung sollte nachbessern. Im Anschluss wollte das Gericht den Antrag erneut prüfen. Bis dahin rollen wieder Autos durch die Große Brunnenstraße.

Es war bereits das zweite Mal, dass in Ottensen die Mobilitätswende ausgebremst wurde. Ein Gericht hatte 2020 erklärt, dass die probeweise Einrichtung einer Fußgängerzone möglicherweise rechtswidrig sei, da keine Gefahrenlage vorliege. Auch damals hatten ein Anwohner und ein Gewerbetreibender Eilanträge gestellt.

Sobald der Autoverkehr eingeschränkt wird, wird geklagt

So geht es derzeit vielen Verkehrsplanerinnen und -planern. Sobald sie den Autoverkehr einschränken und dem Rad- und Fußverkehr mehr Platz geben, kommt es zu Klagen. Das betrifft Verkehrsversuche genauso wie den dauerhaften Umbau.

"Das Problem ist nicht der Einspruch der Kläger, sondern die Rechtslage", sagt Miriam Dross, Juristin und Fachgebietsleiterin "Nachhaltige Mobilität in Stadt und Land" beim Umweltbundesamt. "Das Straßenverkehrsrecht (StVR) und die Straßenverkehrsordnung (StVO) sind ungeeignet, um das zu tun, was jetzt erforderlich ist: den öffentlichen Straßenraum im Sinne der Mobilitätswende umzugestalten und zu verändern", sagt sie. Die Gesetze hätten zum Ziel, dass der Autoverkehr fließe. Den Verkehr großflächig zu beruhigen oder dem Bus-, Rad- oder Fußverkehr auf den Straßen Vorrang zu gewähren, sei daher schwierig. Es sei wahrscheinlich, dass Kritikerinnen und Kritiker Schwachstellen finden und dagegen klagen.

Laut Koalitionsvertrag ist das vorgesehen. Aber bislang hat Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) keine Reformvorschläge zum Straßenverkehrsgesetz (StVG) und der Straßenverkehrsordnung (StVO) vorgelegt. Verkehrsexperten, Bürgermeisterinnen und Verbandsvertreter warten seit Monaten darauf. Der führende Rechtsexperte auf dem Gebiet, Stefan Klinski von der Berlin School of Economics and Law, hat Anfang des Jahres einen Regulierungsvorschlag veröffentlicht, der detailliert beschreibt, was sich ändern sollte, damit Länder und Kommunen zügig die Weichen für die Mobilitätswende stellen können.

Der entscheidende Hebel ist aus seiner Sicht, den Aspekt "Prävention" im StVG zu verankern. "Das wäre ein Richtungswechsel in der Verkehrspolitik", sagt er. Vorsorgende Verkehrsplanung heißt, Planende können frühzeitig Maßnahmen ergreifen, um mögliche Gefahren abzuwenden, die der Autoverkehr verursacht. Das gilt für Unfälle, aber auch für Schäden, die Autos durch ihren Platzverbrauch, Lärm oder Emissionen verursachen sowie mögliche Folgeschäden fürs Klima, die Umwelt oder die Gesundheit.

Verkehrsrecht basiert auf Vorstellungen der 1950er-Jahre

Wenn der Fokus auf eine vorsorgende Verkehrsplanung gelegt wird, können die Verkehrsbehörden den Ausbau des nichtmotorisierten Verkehrs massiv vorantreiben. Etwa indem sie Busspuren einrichten oder bedarfsgerechte Radnetze entwerfen. Laut Klinski gehört auch der Umbau von Stellflächen in Grünanlagen dazu, um einzelne Standorte besser an die Folgen des Klimawandels anzupassen.

All das ist bislang gar nicht oder nur eingeschränkt möglich, weil der fließende Verkehr immer Vorrang hat. "Das Verkehrsrecht von heute entspringt den Visionen der autogerechten Stadt der 1950er-Jahre", sagt Klinski, "es ist konsequent darauf ausgerichtet, auf den Straßen möglichst viel Autoverkehr zu ermöglichen". Diese Philosophie der Verkehrsplanung wurde bereits in den 1980er-Jahren kritisiert.

In der Zeit setzten erste Initiativen Spielstraßen und verkehrsberuhigte Zonen durch. Ende der 1990er-Jahre wurde die Entwicklung eines beruhigteren Verkehrs immer wichtiger. "Im Jahr 2011 hat der Verordnungsgeber dann den Paragrafen 45 Absatz 9 StVO verschärft", sagt Klinski. Seitdem darf der fließende Autoverkehr nur beschränkt werden, wenn eine ganz besondere Gefahrenlage vorliegt, die belegt werden muss.

Der Autoverkehr soll fließen

In Kombination mit dem Paragrafen 45 Absatz 9 StVO wird das StVG vielerorts zum Knebel für Verkehrsplaner. Das Straßenverkehrsrecht zielt momentan allein auf die "Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs", sagt Klinski. Wollen die Planer an Hauptstraßen beispielsweise lokal begrenzt Tempo 30 anordnen, um die Sicherheit von Radfahrern, Fußgängern oder Kindern zu erhöhen, scheitern sie an der Rechtslage.

"Es ist momentan nicht möglich, in den Verkehrsfluss einzugreifen, wenn mit besonderen Gefahren zu rechnen ist, sondern nur, wenn die Gefahrenlage bereits besteht", sagt der Rechtsexperte. Es müssen also schwere Unfälle stattgefunden haben, um nachträglich regelnd eingreifen zu können. "Die Flüssigkeit des Verkehrs wird damit im Einzelfall über die Sicherheit und über die Sicherheitsvorsorge gestellt", sagt Klinski.

Um diese Verkehrspolitik pro Auto aufzubrechen, schlägt er vor, das Straßenverkehrsgesetz (StVG) anzupassen. Normalerweise regelt ein Gesetz die wesentlichen Grundzüge eines Rechtsbereichs. Anders Paragraf 6 StVG. Dort werde nicht festgelegt, was den Straßenverkehr ausmachen soll, sagt Klinski. Stattdessen enthalte er eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Verordnungsermächtigungen, die sich auf die Fahrerlaubnis, die Fahrzeugtechnik und das Verkehrsgeschehen beziehen. Interessant ist für den Rechtsexperten Paragraf 6 Absatz 4 StVG. Dort geht es erstmals auch um die Auswirkungen des Verkehrs auf andere Belange.

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Vorsorge in Verkehrsplanung integrieren

An dieser Stelle will der Rechtsexperte den Hebel ansetzen. Werde hier der Aspekt der Vorsorge systematisch ergänzt, entfalte er schnell eine weitreichende Wirkung. Beispielsweise könnten die Kommunen an Hauptstraßen Tempo 30 anordnen, wenn die Geschwindigkeit zu mehr Lärm, Abgasen oder Unfällen führt. "Der Alexanderplatz in Berlin ist einer der Unfallschwerpunkten der Hauptstadt", sagt Klinski. Tempo 30 würde die gesamte Verkehrssituation dort entspannen.

Aber momentan ist es laut StVO unmöglich, an Hauptstraßen im Kreuzungsbereich Tempo 30 anzuordnen. Den Verkehrsplanern sind die Hände gebunden. Ebenso bei Busspuren. "Momentan dürfen sie nur angeordnet werden, wenn mindestens 18 Busse pro Stunde eine Stelle passieren", sagt er. Mit einer vorsorgenden Verkehrsplanung könnte der Busverkehr vor einem Bahnhof oder einem Einkaufszentrum priorisiert und der Autoverkehr ausgesperrt werden.

Stefan Klinskis Änderungsvorschlag

Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1, durch die oder auf deren Grundlage durch Anordnungen der zuständigen Straßenverkehrsbehörde bestimmt wird, wie öffentliche Straßen benutzt werden können, dienen auch:

1. zur Minderung von nachteiligen Auswirkungen durch die Benutzung von Fahrzeugen im Straßenverkehr auf die Umwelt einschließlich des Klimas sowie auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen, insbesondere im räumlichen Umfeld der Straßen,

2. zur Schaffung günstiger Bedingungen im Straßenverkehr für einen künftig zunehmenden nichtmotorisierten Verkehr, insbesondere für die Nutzung von Fahrrädern sowie für die Mobilität zu Fuß und für Menschen mit Beweglichkeitseinschränkungen,

3. zur Sicherstellung eines flüssigen, erforderlichenfalls vorrangigen Verkehrs mit öffentlichen Verkehrsmitteln,

4. zur zeitlich und räumlich differenzierenden Ordnung des Verkehrs in Rücksichtnahme auf Bedürfnisse der nacht-, Feiertags- und Sonntagsruhe, auf Ferienzeiten und auf kulturelle, sportliche, religiöse oder sonstige nicht verkehrliche Anlässe sowie

5. zur Berücksichtigung städtebaulicher Belange auf Initiative der Gemeinde, auch bezogen auf einzelne der in Nummer 1 bis 5 angesprochenen Zwecke und Maßnahmen und können durch die zuständigen Straßenverkehrsbehörden ohne weitere Voraussetzungen für Anordnungen auf Grundlage der Rechtsverordnungen angewendet werden, soweit dies im Einzelfall zu einem dieser Zwecke erforderlich ist und Belange der Sicherheit des Verkehrs oder zwingende sonstige öffentliche oder private Belange nicht entgegenstehen. Für Anordnungen im Sinne von Satz 2 ist in den Rechtsverordnungen vorzusehen, dass Gemeinden Anträge auf solche Maßnahmen stellen können und diese pflichtgemäß zu bescheiden sind.

Der Professor weiß, für Laien ist die Platzierung der Änderungen unspektakulär. Dort werden nur die sogenannten "Nebenzwecke" der StVO behandelt. Aber an der Stelle seien sie wirkungsvoller als in die Allgemeinklausel des Paragrafen 6 zu schreiben "sämtliche Absätze dienten auch dem Klimaschutz". Davor warnt er. "Das klingt zwar gut, hat aber keine unmittelbare Wirkung", sagt Klinski. Das Verkehrsministerium könnte auf die Antriebswende verweisen und sämtliche weiteren Änderungen ablehnen. Klinskis Vorschlag dagegen wirkt sofort.

"Die Regelung kann bereits auf die bestehende StVO ergänzend angewandt werden", sagt er. Paragraf 45 Absatz 9 StVO, der bislang alle vorsorgende Maßnahmen blockiert, würde mit der neuen Formulierung im Paragraf 6 Absatz 4 StVG wirkungslos. Die Straßenbehörden könnten damit den Rad- und Fußverkehr fördern, den Bus- und Bahnverkehr fördern und mehr Grünflächen in die Straßen bringen, um sie an die Folgen des Klimawandels anzupassen.

Im Hamburger Stadtteil Ottensen kann die Bezirksregierung all das inzwischen umsetzen. Anfang des Jahres hat das Gericht den überarbeiteten Antrag der Verwaltung erneut geprüft und dem Verkehrsprojekt "freiRaum Ottensen" grünes Licht gegeben. Für das Gericht wiegen in den zwölf Straßen die öffentlichen Bedürfnisse schwerer – also die Steigerung der Aufenthaltsqualität, die Erhöhung der Verkehrssicherheit und die Verbesserung des Fuß- und Radverkehrs – als die privaten Interessen von Kfz-Verkehrsteilnehmern, Gewerbetreibenden und Anliegern.

Für den Stadtteil und Hamburg ist das ein wichtiges Signal. Schließlich soll laut Koalitionsvertrag die Innenstadt bis 2025 autoarm werden. Dafür müssen zusätzliche Fußgängerzonen entstehen, Parkplätze im öffentlichen Raum abgebaut und Durchgangsverkehr vermieden werden. Mit dem Urteil hat "freiRaum Ottensen" einen kleinen, aber bedeutenden Schritt in diese Richtung geschafft.

Verwendete Quellen:

  • hamburg.de: freiRaum Ottensen – Das autoarme Quartier
  • Ottensen Macht Platz: Stellungnahme zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg
  • Die Bundesregierung: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP
  • Bundesamt für Justiz: Straßenverkehrs-Ordnung (StVO): Paragraf 45 Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen
  • Bundesamt für Justiz: Straßenverkehrsgesetz (StVG): Paragraf 6 Verordnungsermächtigungen
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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