Das Heimwegtelefon ist ein Verein, bei dem Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ehrenamtlich und via Telefon Menschen nach Hause begleiten. Wir haben mit Daniel, einem der Telefonisten, über die Herausforderungen seiner Arbeit und die Anrufenden gesprochen.
Es gibt Momente, in denen wir uns unterwegs unwohl oder sogar unsicher fühlen. Beispielsweise dann, wenn wir im Dunkeln auf dem Nachhauseweg sind oder wir einige Minuten alleine auf den Bus warten müssen. Für diese Situationen gibt es das Heimwegtelefon.
Anrufen kann hier jede Person, die sich unterwegs unwohl fühlt. Dabei ist es ganz gleich, welchem Geschlecht sich die Person zugehörig fühlt oder wie alt sie ist. Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleiten die Anrufenden dann telefonisch nach Hause.
Dabei verfolgen sie den Weg der Anrufenden auf einer Online-Karte und unterhalten sich mit ihnen, bis sie am Ziel angekommen sind oder sich wieder sicher fühlen. Wie ein solcher Anruf im Detail abläuft, können Sie hier nachlesen.
So erreichen Sie das Heimwegtelefon
- Telefon: 030 12074182 (deutschlandweit). Es gelten die Telefongebühren Ihres Mobilfunkanbieters für einen Anruf in das deutsche Festnetz.
- Erreichbarkeit: Sonntag bis Donnerstag: 21 bis 24 Uhr, Freitag & Samstag 21 bis 3 Uhr.
Einer von diesen Telefonisten beim Heimwegtelefon ist Daniel. Im Interview mit unserer Redaktion hat er über seine Arbeit gesprochen, wer beim Heimwegtelefon anruft und wie es ihm persönlich geht, wenn der seltene Fall einer Notsituation eintritt.
Wie kamen Sie dazu, sich beim Heimwegtelefon als Telefonist zu bewerben?
Daniel: Ich habe 2019 davon erfahren, dass es das Heimwegtelefon überhaupt gibt. Ich fand das Projekt cool, habe mich aber nicht weiter damit beschäftigt, bis ich dann Ende 2019 erfahren habe, dass tatsächlich die Öffnungszeiten eingeschränkt werden mussten, weil nicht mehr genügend Ehrenamtliche zur Verfügung standen. Dann habe ich begonnen, mich zu informieren. So etwas sollte nicht daran scheitern, dass sich bei über 80 Millionen Menschen in Deutschland nicht einige zusammenfinden, um so ein Angebot zu erhalten. Anfang 2020, noch vor der Corona-Pandemie, habe ich mich dann beworben und bin seitdem Teil des Teams.
Wie Sie das Heimwegtelefon unterstützen können
- Das Heimwegtelefon ist auf ehrenamtliche Mitarbeitende angewiesen.
- Der Verein lebt von Spenden, Kooperationen und Sponsoren.
- Wenn Sie helfen wollen, finden Sie alle nötigen Informationen auf der Webseite.
Was hat sich seitdem für Sie privat verändert?
Sehr viel in der Art und Weise, wie ich Dinge sehe. Gerade als männlich gelesene Person hat man viele Gedankengänge vielleicht nicht so, wie sie viele weiblich gelesene Personen haben. Und ich bin natürlich in den weit über tausend Anrufen, die ich in diesen Jahren hatte, mit sehr vielen Geschichten und Situationen konfrontiert worden. Und habe dadurch schon einen anderen Blick auf viele Gefühle und Situationen bekommen und agiere selbst natürlich anders.
Inwiefern agieren Sie selbst durch Ihre Arbeit anders?
Vor allem versuche ich, Menschen in meinem Umfeld auf die Thematik aufmerksam zu machen. Vieles im Alltag passiert aus Nachlässigkeit oder Unwissenheit, weshalb ich dann beispielsweise sage: "Hey, denk mal darüber nach, was du da gerade tust oder sagst." Denn Kernpunkte, warum sich gerade weiblich gelesene Personen an uns wenden, sind, dass sie Erfahrungen mit Catcalling und übergriffigem Verhalten machen mussten. Solche Erfahrungen wirken nach. Und das würde gar nicht erst passieren, wenn wir uns auf gewisse Anstandsregeln einigen könnten und darauf, darüber nachzudenken und zu akzeptieren, dass nur, weil ich das jetzt irgendwie nett oder als Witz oder als was auch immer meine oder empfinde, mein Gegenüber das nicht unbedingt so auffasst.
Was ist Catcalling?
- Als Catcalling wird verbal übergriffiges, sexuell konnotiertes Verhalten gegenüber Frauen im öffentlichen Raum bezeichnet, also beispielsweise Hinterherrufen oder Nachpfeifen.
Was können wir alle – insbesondere Männer – tun, um nicht aus Versehen bedrohlich zu wirken?
Man könnte beispielsweise die Straßenseite wechseln, wenn vor einem jemand geht. Manchmal reicht es auch schon, eine halbe Minute stehenzubleiben. Man könnte beispielsweise auch selber anfangen zu telefonieren, um klarzumachen: "Ich bin hier keine Gefahr." Im Zweifelsfall einfach sagen: "Hey, du, entschuldige, falls ich gerade bedrohlich auf dich wirke. Ich laufe hier auch einfach nur lang, bitte keine Angst haben." Das kann helfen, diese Stille und dieses Unsichere zu brechen. Da gibt es ganz viele Wege. Aber der erste Schritt ist, diese Sorge überhaupt erst mal anzuerkennen und vielleicht auch einfach mal bei Personen im eigenen Umkreis nachzufragen, wie sie solche Situationen empfinden. Ich glaube, das würde einigen Menschen die Augen öffnen.
"Jeder Vorfall, egal wie viele man schon hatte, ist immer wieder eine besondere, emotionale und stressige Situation."
Haben Sie als Telefonist schon einmal eine bedrohliche Situation miterlebt?
Ja, mehrmals. Ich möchte allerdings betonen, dass das in der Gesamtzahl glücklicherweise wirklich sehr, sehr selten vorkommt.
Was macht das mit einem?
Jeder Vorfall, egal wie viele man schon hatte, ist immer wieder eine besondere, emotionale und stressige Situation. Das kann ich nicht leugnen. Natürlich schaltet man in so einem Fall in einen Modus, in dem man einfach funktioniert. Aber auch mir zittern immer wieder danach die Hände. Ich brauche dann auch immer erstmal einen kleinen Moment, um wieder runterzukommen und Revue passieren zu lassen, was gerade passiert. Das sind Momente und Geschichten, die man nicht vergisst. Wir sind beim Heimwegtelefon glücklicherweise ein super Team, in dem wir uns gegenseitig bei schwierigen Erlebnissen unterstützen.
Kann man für solche Momente trainieren?
Gewissermaßen. Wir haben uns über die letzten Jahre ein sehr umfangreiches internes Ausbildungssystem aufgebaut. Zunächst ist aber der Bewerbungsprozess für dieses Ehrenamt sehr umfangreich. Telefonisten müssen mental belastbar und motiviert sein und Zeit für diesen Job haben. Es kann sehr anstrengend sein, auch körperlich, wenn man um drei Uhr nachts noch immer auf Knopfdruck perfekt funktionieren muss. Neue Mitarbeitende arbeiten zu Beginn immer mit einem erfahrenen Telefonisten zusammen. Wir versuchen auch Notfälle zu simulieren, um für den Ernstfall vorzubereiten und damit die Abläufe verinnerlicht werden. Denn nur, wenn sich die ehrenamtliche Person sicher und wohl mit der Arbeit fühlt, kann sie auch Sicherheit an die Anrufenden vermitteln. Die Menschen erwarten ja auch, dass wir wissen, was wir hier tun.
Was halten Sie von Notfall-Apps? Inzwischen gibt es ja unzählige, wie "Save Now", "Save Space" und viele mehr.
Wir kennen natürlich nicht jede einzelne App und haben auch nicht alle ausprobiert. Unsere Empfehlung ist die nora-Notruf-App. Das ist die offizielle App der deutschen Bundesländer und die einzige Möglichkeit, wie man auch wirklich direkt Hilfe vor Ort bekommen und direkt die Polizei und den Rettungsdienst kontaktieren kann.
Es gibt viele andere Angebote, bei denen ich oft Freunde miteinbeziehen kann, indem ich meinen Standort weitergebe oder Notfallalarm auslöse. Aber was passiert denn in einem solchen Moment? Ich löse dann den Notfallalarm aus und dann bekommt den meine Freundin aufs Handy. Vielleicht sieht sie den aber gar nicht, weil sie beispielsweise gerade mit dem Streaming-Dienstleister ihrer Wahl auf der Couch sitzt und das dann erst zehn Minuten später mitkriegt. Und selbst wenn sie ihn rechtzeitig sieht, was macht sie dann damit?
Das kann überfordernd sein.
Wie soll ich mich als Freund oder Freundin in so einer Situation verhalten? Versuche ich erst mal zurückzurufen? Versuche ich vielleicht die Polizei anzurufen? Was sage ich dann darüber, was passiert ist? Da geht wirklich wichtige Zeit verloren. Solche Apps können manchmal eine trügerische Sicherheit suggerieren. Wer seine Freunde einbeziehen möchte, kann auch mit ihnen auf dem Heimweg telefonieren, sodass die im Notfall mit der nora-Notruf-App Hilfe holen und konkrete Angaben zum Standort und so weiter geben können.
"In einer konkreten Bedrohungssituation bitte grundsätzlich immer direkt den Notruf wählen oder selbst die nora-Notruf-App nutzen."
Das ist besser, als so einen diffusen Alarm auszusenden, bei dem die Freunde in dem Moment gar nicht wirklich wissen, was jetzt eigentlich zu tun ist und was da jetzt gerade passiert. Wenn man andere Notfall-Apps nutzen möchte, sollte man also unbedingt vorher mit seinen Notfall-Kontakten ein ganz konkretes Vorgehen vereinbaren. Wichtig: In einer konkreten Bedrohungssituation bitte grundsätzlich immer direkt den Notruf wählen oder selbst die nora-Notruf-App nutzen.
Sind es denn nur junge Frauen, die beim Heimwegtelefon anrufen?
Das kann man so nicht sagen, es ist schon gemischt, aber es gibt natürlich Tendenzen. Die Menschen, die uns kontaktieren, machen das im Schnitt zweimal im Jahr. Wenn wir die Anrufe insgesamt betrachten, liegt das Durchschnittsalter der Anrufenden bei 26 Jahren. Und dabei sind die Anrufe zu etwa 81 Prozent von weiblich gelesenen Personen, zu 16 Prozent von männlich gelesenen Personen und dann haben wir noch drei Prozent, die sich als divers angeben.
In welchen Momenten rufen die Leute an?
Das hängt total von der persönlichen Prägung ab. Viele kontaktieren uns in Verbindung mit der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, auf den sie dann warten müssen, oder wenn sie noch einige hundert Meter laufen müssen, nachdem sie ausgestiegen sind. Wir merken auch, dass Menschen, die aus einem ländlicheren oder Kleinstadtumfeld kommen, mit den gleichen Situationen ganz anders umgehen, wie jemand, der in einer Großstadt aufgewachsen ist oder schon sehr lange dort lebt.
Ein Beispiel: Wenn junge Menschen aus Brandenburg zum ersten Mal in Berlin unterwegs sind, sind sie oftmals überfordert von den verschiedenen Eindrücken, von denen der Berliner sagt, "das ist halt Berlin". Oder wenn man mit Menschen spricht, die in Hamburg wohnen: Die schätzen Situationen oft ganz anders ein, weil sie an die Reeperbahn gewöhnt sind. Egal wie man das jetzt bewertet – wie gut oder schlecht es ist, sich an bestimmte Situationen zu gewöhnen –, führt das natürlich einfach zu einem anderen Nutzungsverhalten auf unserer Seite.
Gibt es auch Personen, die sehr regelmäßig, wie "Stammkunden", anrufen?
Es gibt natürlich Menschen, die häufiger unser Angebot nutzen möchten und Menschen, die es nicht so häufig brauchen. Wir appellieren da immer an fair use – wir wollen für die Menschen da sein, die gerade wirklich Unterstützung brauchen. Wenn man ein permanentes Unsicherheitsgefühl im öffentlichen Raum hat, können wir nicht mehr die Lösung sein. Manche Personen haben auch schon Stalking-Erfahrungen machen müssen, was dann aber definitiv Sache der Behörden ist und wo die Polizei für Sicherheit und Schutz sorgen muss. Generell können wir keine dauerhafte Begleitung auf alltäglichen Wegen anbieten, das ist auch gar nicht das Ziel.
Was ist stattdessen das Ziel?
Wir möchten eine Art Back-up sein, eine Option, wenn das Gefühl von Unsicherheit eintritt. Wir wollen die Anrufer so weit bringen, dass sie sagen: "Ich fühle mich hier mit der Situation wieder so weit wohl, dass ich die Situation im Griff habe und handlungsfähig bin." Das klingt vielleicht erst mal ganz komisch, aber es passiert ganz schnell, dass man das Gefühl der Handlungsfähigkeit für sich verliert. Man wird schnell in eine Angstspirale hineingezogen, sodass man dann auf – objektiv betrachtet – ganz logische Entscheidungen gar nicht mehr kommt. Die Anrufenden aus dieser Angstspirale wieder rauszuholen, das ist die Idee des Angebots, damit sie sich aus eigener Kraft heraus wieder sicher fühlen. Wir möchte ein kleiner Baustein sein, um Menschen dabei zu helfen, selbstbestimmt und frei unterwegs sein zu können.
Redaktioneller Hinweis
- Der vollständige Name von Daniel ist der Redaktion bekannt, wird jedoch zum Schutz der Privatsphäre nicht genannt.
Hilfsangebote
- Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.