Zum Thema Sterbehilfe hat wohl jeder eine Meinung. Was ist die Sicht von Ärzten? Deren Dilemma erklärt Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, im Interview.

Ein Interview

Herr Melching, wie ist die aktuelle Sterbehilfe-Situation in Deutschland?

Heiner Melching: Wir haben in Bezug auf die Hilfe beim Suizid, also den assistierten Suizid, die liberalste Regelung, die es geben kann. Verboten ist zwar die "Tötung auf Verlangen", also jemandem zum Beispiel eine Spritze zu geben, damit er stirbt. Aber jeder darf einem anderen beim Suizid helfen - vorausgesetzt, der Sterbewillige macht den letzten Schritt selber. Ein Arzt darf also zum Beispiel einen Zugang legen, ein Medikament anhängen, aber der Betroffene muss selbst das Rädchen aufdrehen, damit die Substanz in den Körper läuft. Der Patient muss "freiverantwortlich" handeln.

Was bedeutet "freiverantwortlich" genau?

Der Betroffene muss selbst einschätzen können, was er gerade macht. Es darf keine kurze, akute Krise sein, und keine psychische Erkrankung vorliegen, die den freien Willen beeinflusst. Denn vorab muss die Frage geklärt werden: Ist es tatsächlich der Wunsch zu sterben? Oder ist es "nur" ein Ausdruck, Hilfe zu bekommen? Oder die Unkenntnis über alternative Möglichkeiten, das Sterben zu gestalten?

Kann man auch sagen: "Nein, ich will dich nicht unterstützen?"

Jeder - auch ein Arzt - darf beim Suizid helfen, keiner aber muss. Das hat das Bundesverfassungsgericht klar gesagt. Der Betroffene hat kein Anrecht, also keinen Anspruch darauf, dass ihm jemand hilft. Es darf einem nur nicht verwehrt werden. Ich muss also jemanden überzeugen, dass das der richtige Weg für mich ist. Oder jemandem viel Geld geben, damit er es macht – wie bei den Suizidhilfe-Organisationen.

Und wo liegt das Dilemma für die Ärzte?

Laut dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt es keine Beschränkung auf eine bestimmte Patientengruppe, wie zum Beispiel auf Schwerstkranke. Das heißt, theoretisch könnte ein kerngesunder 18-Jähriger zum Arzt gehen und sagen: "Gib mir was!"

Wie gehen Ärzte damit um?

Ärzte wollen nicht zu reinen Dienstleistern werden: Jemand kommt zum Beispiel mit einem Zettel von einer Beratungsstelle, der Arzt gibt ihm das Rezept für das Medikament, dann geht er nach Hause und stirbt – egal wie? Und was ist mit den Angehörigen? Das kann es nicht sein! Ärztliches Handeln setzt immer eine Beziehung zum Patienten voraus, in der man gemeinsam herausfindet, was das Beste ist und welche Alternativen es gibt.

"Ärzte wünschen sich ein Regelwerk vom Gesetzgeber"

Was sehen Ärzte noch als Problem an?

Für manche Ärzte kann es schwierig sein, die Verantwortung zu übernehmen, schließlich kann diese Entscheidung nicht rückgängig gemacht werden. Zurzeit haben wir eine maximale Freiheit und eine maximale Verantwortung. Viele Ärzte aber möchten von beidem etwas abgeben. Sie wünschen sich ein Regelwerk vom Gesetzgeber, mit Vorgaben, nach denen sie klar handeln können. Ich glaube nicht, dass so eine Regelung helfen würde, die auf jeden Fall eine Einschränkung und Strafandrohungen bei Fehlverhalten bedeuten würde.

Wie soll dieses Regelwerk aussehen?

Normalerweise gibt es klare Vorgehensweisen: Der Patient hat dies und das, eine Indikation folgt, der Arzt schlägt eine Therapie vor, der Patientenwunsch wird dazu abgewogen und am Ende handelt der Arzt. Bei einem Wunsch nach Suizid steht nur der Wunsch im Raum "Ich will sterben". Dann steht der Arzt nackig da ... Ein Regelwerk wird aber in der Praxis schwer funktionieren und den Ärzten die schwierige Entscheidung, ob sie helfen wollen oder nicht, nicht abnehmen.

Wären die Suizidhilfe-Organisationen eine Alternative?

Suizidhilfe-Organisationen sichern sich auch ab, dass der Patient freiverantwortlich handelt und nicht psychisch krank ist. Wir wissen aber von vielen Problemen mit diesen Organisationen und dass es dort nicht immer gut funktioniert. Aber vor allem ist es hier eine bloße Dienstleistung ohne das nötige Beziehungsgeschehen und das "Ringen um den besten Weg".

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Wissenslücken bei Ärzten und auch Patienten kennen eigene Rechte oft nicht

Wissen Ärzte über die aktuelle Situation vollumfänglich Bescheid?

Nein, bei einigen Befragungen haben wir festgestellt, dass nahezu die Hälfte der Ärzte dachte, sie dürften keine Suizidhilfe durchführen. Für sie ist dieses Nichtwissen vielleicht auch ein Versteck, eine Zuflucht. Es gibt auch Ärzte, die sich ein Verbot wünschen - dann würde die schwierige Diskussion entfallen.

Und wie schaut es bei Patienten aus?

Viele kennen ihre Rechte nicht. Die öffentliche Diskussion geht meistens um das Sterben von Schwerstkranken am Lebensende. Hier sehen viele diese Form des Suizides als Notausgang, wenn es nicht mehr geht. Sie haben Angst, der Medizin ausgeliefert zu sein. Aber viele vergessen oder wissen nicht, dass niemand etwas gegen den Willen des Patienten machen darf. Jemanden gegen seinen Willen zu behandeln, zu beatmen, zu ernähren, ins Krankenhaus zu bringen - all das sind Körperverletzungen und damit Straftaten. Die Sterbehilfe-Diskussion ist also auch eine Stellvertreter-Diskussion. Wir schieben dort vieles hin, weil wir keine Ahnung haben.

"Ich denke: Gehen 100 Menschen mit einem Suizidwunsch zu einem Suizid-Verein, begehen dort vielleicht 50 Menschen einen Suizid. Auf der Palliativstation wären es vielleicht zwei."

Heiner Melching

Warum möchte die Politik im Zuge der Diskussion die Palliativmedizin ausbauen?

Es ist ein Unterschied, ob ein psychisch kranker 40-Jähriger sterben will, weil das Leben für ihn nicht mehr lebenswert erscheint, oder ein Mensch auf der Palliativstation. Diese wollen ja leben – aber nicht so. Aber wo liegt die Schwelle? Ab wann ist das Leben für die Betroffenen nicht mehr lebenswert? Diesen Punkt kann die Palliativmedizin finden, weil wir Patienten lange begleiten und erfahren sind mit dem Leben und Sterben. Ich denke: Gehen 100 Menschen mit einem Suizidwunsch zu einem Suizid-Verein, begehen dort vielleicht 50 Menschen einen Suizid. Auf der Palliativstation wären es vielleicht zwei.

Wie viele Fälle gibt es in Deutschland?

Das wird nicht erfasst, weil es auf den Totenscheinen nicht vermerkt wird. Wir kennen nur die Zahlen von den Vereinen: In Deutschland gibt es drei große und wenige kleine – rund 600 Fälle hatten sie 2022. Eine generelle Erfassung wäre für eine Enttabuisierung förderlich, denn tatsächlich unterstützen viele Ärzte ihre Patienten.

Viele Ärzte könnten sich vorstellen, Sterbehilfe zu leisten

Wie viele Ärzte machen es?

Auch das wissen wir nicht. Bei Befragungen geben immer zwischen 20 und 40 Prozent der Ärzte an, sie würden es theoretisch machen, weil sie das richtig finden. Aber in der Praxis würden wohl mindestens 90 Prozent ablehnen, wenn sie die Patienten nicht gut kennen. Die Begründungen: Ich kenne dich nicht. Ich weiß nicht, ob du psychisch krank bist. Ich will nicht. Ich traue mich nicht. Das ist nicht meine Aufgabe.

Wie geht es in der Politik weiter?

Der rechtliche Rahmen ist geklärt und das Verfassungsgericht hat kein neues Gesetz gefordert, sondern nur festgelegt, was der Gesetzgeber regeln darf. Mein Gefühl ist, dass die Politik nach einer Regelung sucht, die aber wieder von einer juristischen Denkweise geprägt sein wird. Ärzte werden nicht einbezogen, aber die Betroffenen müssen ja genau ihnen die Wünsche erklären! Außerdem: Wie fängt man die Angehörigen auf? Wie die Ärzte? Es gibt viele Ärzte, die ihr Handeln hinterher fürchterlich fanden, weil sie alleine waren. Und: Man müsste zudem zwischen körperlich schwerstkranken, psychisch kranken und "gesunden" Patienten differenzieren.

Was wird derzeit schon umgesetzt?

Ein Gesetz zur Verbesserung der Suizidprävention wurde beschlossen und muss noch umgesetzt werden - und das ist sehr vernünftig und der richtige Weg.

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Hilfsangebote

  • Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
  • Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

Über den Gesprächspartner

  • Heiner Melching ist Sozialpädagoge/Sozialarbeiter und Trauerbegleiter (ITA). Seit 2009 ist er Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
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