- An Halloween soll es vor allem gruselig zugehen, aber es kann auch ganz schön widerlich werden.
- Das Spiel mit der Abscheu hat – von Shakespeare bis Stranger Things – eine lange Tradition und könnte unserem Körper sogar helfen.
Die lange Geschichte von Halloween beginnt beim keltischen Totenfest Samhain und endet zumindest vorläufig mit der modernen und arg kommerzialisierten Gruselparty. Mit einer Industrie, die Jahr für Jahr auszieht, uns alle das Fürchten zu lehren, ob mit künstlichen Spinnennetzen als Deko, Zombieschminke oder blutgetränkten Horrorfilmen. Aber Hand aufs Herz, wer hat noch richtig Angst an Halloween?
Doch selbst wer über billige Gruseleffekte nur müde lächelt, muss an Halloween nicht leer ausgehen, weil das Fest gleich zwei Emotionen bedient: Angst und Abscheu. Zerfallende Zombies schleimen, selbst noch so gut präparierte Halloween-Kürbisse schimmeln, und wo Hollywoods Psychopathen ihre Opfer niedermetzeln, bleibt glitschiges Gedärm zurück. Zu wissen, dass hier Gruseldeko, Schminke und Requisiten eingesetzt werden, hilft nicht, wenn sich der Magen schon umgedreht hat. Woher kommt der Spaß am Ekel? Und wozu ist Abscheu eigentlich gut?
Warum Ekel über Bande spielt
Aus biologischer Perspektive lässt sich die Funktion leicht erklären. Ekel ist eine fundamentale und lebenswichtige Emotion des Menschen. Er soll uns – als Teil des "verhaltensbasierten Immunsystems" – vor dem Kontakt mit Pathogenen und Parasiten bewahren. Einfach gesagt: Wenn wir vor Infektionsquellen nur schnell genug zurückschrecken, fangen wir uns keine Krankheitserreger ein, die die Körperabwehr mit unsicherem Ausgang bekämpfen müsste.
In der Sache ist das extrem sinnvoll, in der praktischen Umsetzung allerdings kompliziert. Denn wie der Name verrät, sind Mikroorganismen mikroskopisch klein, also unserer Wahrnehmung entzogen. Notgedrungen springt unser Ekel-Frühwarnsystem deshalb auf mögliche Anzeichen einer mikrobiellen Kontamination an.
Das war lange Zeit vor allem der Gestank. Über viele Jahrhunderte galten "Miasmen", also schlechte Gerüche aller Art, als Auslöser tödlicher Infektionen wie der Cholera. Ein weiteres Ekel-Signal ist der Schleim, der tatsächlich oft mit Erregern assoziiert ist. Denn Mikroben produzieren selbst komplexe Schleime wie beispielsweise den hartnäckigen Belag auf unseren Zähnen. Und unsere eigenen Schleime schützen die gefährdeten Oberflächen im Körperinneren wie die Atemwege und den Verdauungstrakt. Das findet meist im Verborgenen statt, ist manchmal aber auch in all seiner ekligen Pracht zu sehen: Dann läuft etwa bei Erkältungen die Nase mit virenverseuchtem Schleim über. Etwas Distanz zu diesem infektiösen Material ist durchaus angeraten.
Krankheit, Sex, Tod – und Schleim
Das bedeutet aber nicht, dass alle biologischen Schleime eine Gefahr sind. Diese Materialien gehören zu den Hydrogelen. Sie bestehen also fast nur aus Wasser, das in einem 3D-Molekülgerüst gefangen ist. Daher rührt die charakteristische klebrige Zähflüssigkeit, die Schleime so vielseitig macht. Sie sind häufig und nicht nur bei Schnecken herausragende Gleitmittel und Klebstoffe. Daneben bilden Schleime aber auch fantastisch anpassungsfähige Barrieren im Organismus. Jedes Lebewesen, ob Mikrobe oder Mensch, ob Pflanze oder Tier, produziert Schleim und ist auf ihn angewiesen. Warum löst er dann oft so extreme Ekelreaktionen aus?
Das mag damit zu tun haben, dass er in industrialisierten und hyperhygienischen Gesellschaften weitgehend aus dem Alltag verdrängt ist. Wir sind selten gezwungen, an Schleim zu denken, ein Material, das so eng mit unseren Peinlichkeiten, Schwächen und Ängsten verbunden ist, mit Sex, Krankheit und Tod. Wir können uns erlauben, ihn gezielt nur in kleinen Dosen in unser Leben zu lassen. Deshalb schleimen moderne Monster so oft, beispielsweise bei bei H.P. Lovecraft, der in seiner Horrorliteratur das gallertige Überwesen Cthulhu und die Shoggothen geschaffen hat. Sie bestehen aus tiefschwarzem Schleim, ähnlich wie der Glibber, der neuerdings in Stranger Things die Welt unsicher macht. Wir gönnen uns wohlige Ekelschauer ohne echte Gefahr oder Konsequenz. Nicht nur, aber auch an Halloween.
Eine uralte Emotion mit immer neuem Gesicht
Das Spiel mit der Abscheu ist allerdings ein Luxus. Wer sein Essen nicht kühlen oder wegwerfen kann, wird notfalls auch Fauliges zu sich nehmen. Ohne sanitäre Anlagen gehören menschliche Ausscheidungen zum Alltag. Und wo medizinische Versorgung fehlt, müssen Kranke daheim versorgt werden. Eine stark ausgeprägte Ekel-Sensitivität muss man sich leisten können und die Emotion hat sich daran angepasst.
Sie soll und muss effektive Abwehrreaktionen auslösen. Sie darf aber nicht das individuelle oder das Überleben der Menschheit gefährden, indem sie die Nahrungsaufnahme, den Umgang mit anderen Menschen oder auch Sex – all die fremden Körperschleime! – unmöglich macht. Verzweifelter Hunger und andere starke Bedürfnisse übertrumpfen die Ekelabwehr.
Außerdem hilft, dass wir zwar als ekelbegabte Wesen geboren werden, aber erst von den Eltern und der Umwelt lernen müssen, welche Auslöser wir künftig widerlich finden sollen. Das erklärt, warum Kinder nicht zuletzt an Halloween kaum Berührungsängste kennen. Spielschleim beispielsweise ist in dem Alter oft ein echter Favorit.
Hier steht das sinnliche Erleben der glitschigen Masse im Vordergrund. Und weil die Abgrenzung von den Erwachsenen so wichtig ist, macht deren Abscheu die Schleimerei wahrscheinlich besonders attraktiv. Der individuelle Ekel nimmt erst nach und nach Gestalt an, wird von den persönlichen Umständen und der eigenen Kultur beeinflusst. Seine Trigger können greifbar sein wie Schleim oder so schwer fassbar wie moralisches Fehlverhalten.
Ekel zwischen Pop- und Hochkultur
Die extreme Wandlungsfähigkeit der Emotion macht es schwierig, Ekelgefühle in der Geschichte zu rekonstruieren. Wenn Menschen vor vielen hundert Jahren "Abscheu" erwähnten, ist dies dann mit unserer Aversion zu vergleichen? Der Literaturwissenschaftler Bradley Irish von der Arizona State University ist davon überzeugt, auch wenn er bei seiner Forschung keine modernen Maßstäbe anlegen kann. "Ich achte auf die Worte", sagt Irish. "Wenn beispielsweise jemand schreibt, dass ein Gestank richtig abstoßend gewesen sei, dann verstehe ich das als Ekel. Oder zumindest als ekel-ähnliche Emotion."
Selbst Ekel-Entertainment ist keine neue Erfindung. "Das gab es bereits zu Shakespeares Zeiten", schreibt Irish, dessen Buch über Shakespeare und Ekel im nächsten Jahr erscheint, in einem Artikel. Die Tragödie Titus Andronicus beispielsweise sei nicht weniger blutrünstig als moderne Gewaltfilme. Nach einer Schätzung werde hier vierzehnmal gekillt, mit neun Tötungen auf der Bühne. Sechsmal würden Gliedmaßen abgetrennt, eine Vergewaltigung sei zu verzeichnen (oder zwei oder drei, abhängig davon, wie gezählt werde). Einen Fall von Wahnsinn gebe es und einen von Kannibalismus. Rein rechnerisch sind das 5,2 Gräueltaten pro Akt – was wohl selbst im Vergleich mit blutrünstigsten Hollywood-Horrorschockern mithalten kann.
Das Spiel mit der Abscheu und der Spaß am Ekel sind eindeutig keine moderne Erfindung. Warum aber tun wir uns das Gewürge freiwillig an? Tut uns das vielleicht gut? Ein Team um Judith Keller an der Universität Hamburg hat kürzlich gezeigt, dass Ekelvideos die Ausschüttung von Antikörpern im Speichel von Probanden stimulieren können. Es ist also denkbar, dass die Abscheu unseren Organismus immunologisch aufrüstet, wenn Kontakt zu Krankheitserregern zu befürchten ist. Noch steht der wissenschaftliche Nachweis aus, dass diese präventive Abwehrreaktion hilft, wenn es tatsächlich zu einer Infektion kommt. Sollte sich dies aber bestätigen, wäre der langen Geschichte von Halloween möglicherweise ein weiteres Kapitel hinzuzufügen: vom Totenfest über die Gruselparty zur immunstimulierenden Ekelorgie – vielleicht dann sogar auf Rezept.
© RiffReporter
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