Hochwasser und Überschwemmungen bestimmten zum Jahreswechsel die Schlagzeilen. Geändert hat sich nach Einschätzung der Gewässerforscherin Sonja Jähnig allerdings nichts. Welche Entscheidungen sie für grundlegend falsch hält und was sich ändern muss, erläutert sie im Interview.
Sonja Jähnig erforscht als Abteilungsleiterin am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei weltweite Veränderungen in Flussökosystemen. Sie ist zudem Professorin für Aquatische Ökogeografie an der Humboldt-Universität Berlin. Das Hochwasser zum Jahreswechsel sollte der Anstoß dafür sein, in den Talauen große Flächen als Grünland und Auwald zu renaturieren, um Wasser von Ortschaften fernzuhalten, sagt die Wissenschaftlerin vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie.
Über Weihnachten und Neujahr haben weiträumige Überschwemmungen in Norddeutschland die Schlagzeilen bestimmt, von historisch hohen Wasserständen war die Rede. Dann wurde es abrupt still – warum?
Sonja Jähnig: Das war wirklich merkwürdig. Als der Frost einsetzte, verschwanden die Überschwemmungen fast von einem Tag auf den anderen aus den Schlagzeilen. Ich habe das auch bei mir selbst erlebt, dass man dann wieder an andere Sachen denkt – sofern man nicht in den betroffenen Regionen lebt. Das ist leider symptomatisch für unseren Umgang mit Hochwasser und Überschwemmungen.
Aus den Augen, aus dem Sinn?
Auf dramatische Bilder und große Aufmerksamkeit folgt eigentlich immer recht schnell das Vergessen und Verdrängen. Wir lernen zu wenig aus den Katastrophen. Sonst würden nicht wenig später vielerorts wieder dieselben falschen Entscheidungen fallen, die Überschwemmungen erst gefährlich machen.
Welche Entscheidungen meinen Sie?
Eigentlich müssten solche Hochwasser wie zum Jahreswechsel zu deutlichen Änderungen dabei führen, wie wir als Gesellschaft mit Flüssen und ihren Auen umgehen. Aber es werden zum Beispiel weiter Neubauten in Überschwemmungsgebieten zugelassen oder Gebäude an alter Stelle wiederaufgebaut. Zudem bleiben die dringend nötigen Investitionen in die Renaturierung von Bächen und Flüssen weitgehend aus. Bund und Länder haben 2013 ein umfangreiches Hochwasserschutzprogramm aufgestellt, davon ist bis heute aber erst ein kleiner Teil realisiert.
Was müsste aus Ihrer Sicht jetzt passieren?
Das ist aus wissenschaftlicher Perspektive schon lange bekannt und auch gut erprobt. Als Erstes sollte man aufhören, weiter in Überschwemmungsgebiete zu bauen. In Städten lässt sich zudem viel machen, damit Wasser im Boden versickert, statt abgeleitet zu werden. Und ganz grundsätzlich müssen wir in der Fläche den Bächen und Flüssen so schnell wie möglich wieder mehr Raum dafür geben, dass sich Wasser bei starken Regenfällen weiträumig in den Talauen ausbreitet und dann so langsam versickert und abfließt, dass Menschen, Siedlungen und Infrastrukturen nicht gefährdet werden. Das schafft man am besten, indem die Fließgewässer aus ihren künstlichen Einengungen befreit werden und sie zum Beispiel wieder in Schleifen fließen und indem sie ihre Altwasserarme und natürlichen Überschwemmungsflächen zurückbekommen.
Was ist am Status quo so gefährlich?
Die Begradigungen und engen Eindeichungen der Vergangenheit haben verengte Flüsse geschaffen, in denen leicht gefährliches Hochwasser entsteht. Ohne Möglichkeiten zur Versickerung und Ausbreitung fließt das Wasser schneller in Richtung Meer ab, auch eine Hochwasserwelle steigt schneller und höher an. Dadurch entgeht der Landschaft auf das Jahr gesehen sehr viel Wasser, das eigentlich im Sommer für kühlende Feuchtigkeit sorgen könnte und in Zeiten des Klimawandels spürbar fehlt.
Die Flussauen wurden aber auch trockengelegt, damit Bauern dort mit Ackerbau mehr verdienen können als mit Grünland. Acker vertragen Überschwemmungen aber nicht.
Das ist jetzt eben eine Frage der Abwägung: Wollen wir es riskieren, dass durch den Klimawandel immer öfter immer häufigere Hochwasser kommen und Siedlungen überschwemmen? Oder wollen wir die Landschaft so weiterentwickeln, dass sie wieder große Niederschlagsmengen aufnehmen und für heiße Jahreszeiten speichern kann? Die großen Landwirtschaftsmaschinen verdichten auf Ackerflächen den Boden so stark, dass Wasser nur schlecht versickert.
Welche Art von Landwirtschaft verträgt sich mit natürlichem Hochwasserschutz?
Verträglich ist eine Nutzung als extensives Grünland, also zur Beweidung und um Heu als Futtermittel zu erzeugen. Auch Schilf lässt sich inzwischen zu Produkten verarbeiten, etwa als Dämm- und Verpackungsmaterial. Es braucht große Flächen, die man im Fall des Falles problemlos überschwemmen kann und die Wasser wie ein Schwamm aufnehmen.
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Ich verstehe die Bindung der Landwirtinnen und Landwirte zu Böden und der Produktion von Nahrungsmitteln, sehe aber nun zusätzliche wichtige Aufgaben wie Landschaftspflege, die für den naturbasierten Hochwasserschutz relevant sind. Die Landwirtschaft wird sich ohnehin an die veränderten Umweltbedingungen anpassen müssen. Und volkswirtschaftlich ist es auf jeden Fall günstiger, wo nötig den Landwirten Ausgleichszahlungen zu leisten.
In Brüssel soll Ende Februar ein neues Gesetz zur Wiederherstellung von Natur beschlossen werden. Bringt das die richtigen Impulse?
Ich halte sehr viel vom sogenannten "Nature Restoration Law". Frühere Initiativen in diese Richtung, vor allem die Wasserrahmenrichtlinie aus dem Jahr 2000, haben noch nicht zu den nötigen Veränderungen geführt. Jetzt wird das konkrete Ziel formuliert, bis 2030 rund 25.000 Kilometer Flüsse in der EU zu renaturieren und wieder frei fließen zu lassen. Das ist super.
Die 25.000 Kilometer sind allerdings nur ein kleiner Teil der mehr als 600.000 Kilometer Fließgewässer, die es insgesamt gibt.
Ja, aber es ist eine greifbare, messbare Zahl – sofern für das gewünschte freie Fließen auch anspruchsvolle Kriterien formuliert werden und es nicht nur kosmetische Eingriffe sind.
Was ist für den Erfolg von Renaturierungen wichtig?
Kein Erfolg ohne Fläche. Es ist entscheidend, dass Flüsse nicht nur punktuell renaturiert werden, dort, wo es geringen Widerstand gibt, sondern auf breiteren und längeren Abschnitten – und es muss sinnvoll aufeinander abgestimmt geschehen. Wenn man nur hier und da kleinteilig renaturiert, sind die Effekte für den Hochwasserschutz gering. Das führt dann auch zu Enttäuschung oder Misserfolgen. Deiche müssen so versetzt werden, dass mehr Überschwemmungsflächen entstehen, aber gleichzeitig Siedlungen trotzdem effektiv geschützt werden. Das ist für die Akzeptanz zentral.
Sollte es zu flächendeckenden Renaturierungen kommen, wird dann der Anblick von überschwemmten Talauen normal?
Ein reißendes Hochwasser, das Siedlungen und Infrastrukturen erfasst und Leben gefährdet, ist etwas grundsätzlich anderes als eine weiträumige Überschwemmung von Talauen, wie sie mit Renaturierungen wieder möglich wird. Die Öffentlichkeit sollte verinnerlichen, dass solche Überschwemmungen der freien Landschaft zum Ökosystem Fluss dazugehören. Sie sind sogar eine Voraussetzung dafür, dass diese Ökosysteme gut funktionieren, indem sie Kohlenstoff im Boden speichern, einer großen Vielfalt von Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten, zur Grundwasserneubildung beitragen und in heißen Sommern kühlend wirken können. Alarm wird in einer renaturierten Talaue erst geschlagen, wenn Personen, Gebäude oder Eigentum in Gefahr geraten. Und genau solchen kritischen Hochwasserereignissen können Renaturierungen unter allen möglichen Maßnahmen am besten vorbeugen und entgegenwirken.
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