Sie mögen plötzlich Fastfood oder Kampfsport, obwohl sie vorher nichts damit anfangen konnten: Manche Menschen, die mit einem neuen Organ leben, berichten von neuen Vorlieben. Oft hatten die Spender des Organs dieselben Interessen. Die Theorie des "Zell-Gedächtnisses" geht davon aus, dass Hobbys und sogar Charakterzüge von einem Menschen auf den anderen übertragen werden können.
Claire Sylvia hatte Fastfood immer verabscheut. Doch nach einer Herz- und Lungentransplantation entwickelte die Amerikanerin plötzlich einen Heißhunger auf Chicken Nuggets und Bier. Die 48-Jährige konnte sich das nicht erklären – bis sie herausfand, von wem ihre neuen Organe stammten: Der 18-jährige Spender hatte am liebsten Chicken Nuggets gegessen.
Neue Vorlieben und merkwürdige Empfindungen
Es gibt unzählige Beispiele für neuen Vorlieben, die Patienten mit gespendeten Organen angeblich entwickelten. Ein Mann hatte überhaupt kein Interesse an Kunst, bis er das Herz eines jungen Mannes bekam, der sehr gern gezeichnet hatte. Nun begann er ebenfalls zu malen.
Eine Frau machte von einem Tag zum anderen gerne Kampfsport, eine andere las plötzlich gerne Literaturklassiker, eine dritte begann zu klettern, obwohl sie vor ihrer Operation Höhenangst hatte.
Aber nicht nur Hobbys sollen sich verändert haben. Es gibt auch Patienten, die nach der Transplantation merkwürdige Sinnesempfindungen erlebten. So erzählte ein Mann von grellen Lichtblitzen, die er vor seinen Augen sah. Der Polizist, dessen Herz er erhalten hatte, war nach einem Schuss ins Gesicht gestorben.
Ein Neunjähriger ging vor seiner Operation gerne schwimmen. Aber nach der Herztransplantation fürchtete er sich plötzlich vor Wasser. Der Dreijährige, dessen Herz er erhalten hatte, war ertrunken.
Keiner der Patienten wusste etwas über die Hobbys, die Todesart oder den Charakter des jeweiligen Organspenders.
Die Theorie vom "Zell-Gedächtnis"
Aber wie ist all das möglich? Vor allem Esoteriker, aber auch manche Mediziner glauben, dass Vorlieben, Emotionen und Erinnerungen nicht allein im Gehirn gespeichert werden. Sie sind sicher, dass das auch in anderen Teilen unseres Körpers möglich ist, etwa im Herz.
Diese Theorie heißt "Zell-Gedächtnis". Dann wäre es auch denkbar, dass Wesensmerkmale und Hobbys von einem Menschen zum anderen übertragen werden – wie bei einer Organtransplantation.
Wissenschaftlich untersucht wurde die Theorie nur in einer Studie im Jahr 2000. Der Kardiologe Paul Pearsall von der Universität Hawaii und sein Team hatten Dutzende Patienten befragt, die ein neues Herz bekommen hatten. Bei vielen stellten sie Veränderungen von Charakterzügen fest.
Diese verglichen sie mit den Persönlichkeiten der Organspender. Die Forscher dokumentierten zehn Fälle von Patienten, die plötzlich bis zu fünf Verhaltensmuster ihrer Spender zeigten. Die Autoren hielten es für möglich, dass diese Merkmale mit den Organen übertragen wurden.
Davon geht auch der Neurologieprofessor Gary Schwartz von der Universität Arizona aus. Er ist sicher, dass es ein "Zell-Gedächtnis" gibt: "Wenn das Organ beim Empfänger eingesetzt wird, werden Informationen und die Energie, die darin gespeichert sind, übertragen."
Viele Wissenschaftler sind skeptisch
Die meisten Wissenschaftler und Mediziner erkennen diese Ideen allerdings nicht an. Sie kritisieren, dass die Befragungen von Pearsall methodisch nicht korrekt ausgeführt worden seien. Zudem fehlten ihrer Ansicht nach weitere Studien und vor allem echte wissenschaftliche Beweise für die Theorie.
Andererseits weiß man längst, dass in unseren Körpern ähnlich kluge Organe wie das Gehirn arbeiten. Das sogenannte Bauchhirn besteht aus 100 Millionen Nervenzellen, die den Darmtrakt des Menschen umhüllen. Sie bilden ein eigenes Nervensystem – und reagieren wie ihre Verwandten im Gehirn auf das Glückshormon Serotonin oder auf den Stress-Botenstoff Adrenalin.
Auch die Existenz einer bestimmten Art von "Zell-Gedächtnis" wurde in Tierversuchen schon nachgewiesen. Das betrifft aber Empfindungen wie Wärme oder die Abhängigkeit von Drogen: An beides "erinnern" sich Körperzellen von Ratten. Ob das bei Menschen auch so ist, wurde aber nicht bewiesen. Erst recht nicht, ob das auch auf Emotionen, Hobbys und Charakterzüge übertragbar ist.
Transplantationen belasten auch die Psyche
Aber wie kommen dann die kuriosen Empfindungen und neuen Vorlieben zustande? Manche Beobachtungen lassen sich womöglich mit den starken Medikamenten erklären, die Transplantationspatienten erhalten. Cortison etwa löst großen Heißhunger auf bestimmte Speisen aus.
Die Patienten müssen darüber hinaus nicht nur körperlich mit einem neuen Organ zurechtkommen, sondern auch psychisch. Die Ethnologin Vera Kalitzkus von der Universität Witten-Herdecke hatte Dutzende Patienten nach Transplantationen befragt und festgestellt: "Sie bekommen lediglich ein neues Organ eingepflanzt – und doch haben sie das Gefühl, als sei ihnen mehr übertragen worden", sagte sie gegenüber der "Süddeutschen Zeitung".
Dass sie sich extrem verändert haben, denken offenbar die wenigsten Organtransplantierten. 79 Prozent der Patienten erklärten bei einer österreichischen Studie, sie fühlten und benahmen sich nicht anders als vor der Operation. 15 Prozent sagten, sie hätten sich tatsächlich verändert, schoben das aber auf die lebensbedrohlichen Erfahrungen. Nur sechs Prozent sagten, ihr Charakter sei durch das neue Organ ein anderer geworden.
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