Karl der Große war im Mittelalter ein mächtiger Herrscher mit großem Einfluss auf die weitere Entwicklung Europas. Was aber, wenn der Frankenkönig in Wahrheit nie gelebt hat? Die These vom erfundenen Mittelalter hält sich hartnäckig. Was hat es damit auf sich? Eine neue Geschichte aus unserer Rubrik "Mystery".

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Karl der Große ist eine der schillerndsten und mächtigsten Figuren des Mittelalters. Von 768 bis 814 war er König des Fränkischen Reichs und dehnte es unter seiner Herrschaft weiter aus. Die bis dato heidnischen Sachsen bekämpfte der Karolinger in langwierigen Kriegen und zwang sie schließlich zur Christianisierung. Mit dem Sieg über die Langobarden zementierte er seine Macht.

Der erste abendländische Kaiser des Mittelalters

Auf dem Höhepunkt seiner Herrschaft wurde Karl zum ersten abendländischen Kaiser des Mittelalters gekrönt. Damit dokumentierte er seine Vorherrschaft in Europa. Aus dem Frankenreich gingen später Frankreich und Deutschland hervor, auch deshalb wurde Karl der Große rückwirkend "Vater Europas" genannt.

Kulturell kam es unter dem Frankenkönig zu einem Aufschwung. Karl der Große ließ unter anderem eine einheitliche Schriftart, den karolingischen Minuskel, einführen, Schulen bauen und Buchkopien zahlreicher antiker Schriften anfertigen. Aachen wurde sein Herrschaftssitz. Hier starb der mächtige Herrscher und Reformer am 28. Januar 814.

Hat er gar nicht gelebt?

Vorausgesetzt, er hat überhaupt jemals gelebt. Die These, dass genau dies eben nie der Fall war, ist weiterhin im Umlauf. Ist unser Schulwissen über ihn also nichts als reine Fiktion? Sind wir alle eine der größten Lügen der Menschheitsgeschichte aufgesessen?

Ja, sagt der deutsche Publizist und Verleger Heribert Illig, der Urheber des Verdachts. Er behauptet nicht nur, Karl der Große habe nie existiert, der Mann will gleich 297 Jahre komplett aus der Geschichte streichen.

Auf das Jahr 614 sei das Jahr 911 gefolgt, so die abenteuerlich wirkende These aus Illigs 1996 erstmals erschienenem Bestseller "Das erfundene Mittelalter". Die sogenannte Phantomzeit-Theorie hat seitdem immer wieder Anhänger gefunden. Sie besagt, dass der genannte Zeitraum erst im Nachhinein mit erfundenen geschichtlichen Aussagen und Akten aufgefüllt worden sei.

Doch wer hätte überhaupt ein Interesse an diesem Unterfangen gehabt? Und wer die Möglichkeit, es umzusetzen? Kaiser Otto III. und Papst Silvester II. seien laut Illig die Drahtzieher dieses mächtigen Komplotts gewesen.

Nur wenig archäologische Funde

Nach unserer Zeitrechnung haben die beiden um das Jahr 1000 herum gelebt, laut Illig jedoch tatsächlich bereits um das Jahr 700. Aufgrund einer heiligen Prophezeiung, wonach zur Jahrtausendwende die Zeit des Messias anbrechen würde, hätte Otto die Geschichtsfälschung betrieben, um im Jahr 1000 als christlicher Herrscher an der Macht zu sein. Deshalb, so Illig, hätte Kaiser Otto gemeinsam mit Papst Silvester die Schreibstuben veranlasst, alle Dokumente umzudatieren, Urkunden seien gefälscht und Gebäude falsch datiert worden.

Um seine These zu untermauern, führt Illig scheinbare Belege aus Disziplinen wie der Astronomie, der Kunstgeschichte, der Archäologie und der Literaturwissenschaft an. Der Aachener Dom, so Illig, könne beispielsweise gar nicht aus der Karolingerzeit stammen, die steinerne Kuppel müsse wegen ihrer Bauweise eindeutig jünger sein. Generell gäbe es nur sehr wenige bauliche Zeugnisse und archäologische Funde aus den von ihm angezweifelten Jahrhunderten.

Ist so eine Behauptung vermessen? Die anerkannte Geschichtswissenschaft hält von der These jedenfalls nichts. Und tatsächlich scheint es kaum vorstellbar, dass dieses Vorhaben flächendeckend und nachhaltig in die Tat hätte umgesetzt werden konnte, ohne dass eine Quelle je die Lüge aufgedeckt hätte. Von Mediävisten wurde Illig erst mit Hohn und Spott überschüttet und dann mit Nichtbeachtung gestraft. Der Hauptvorwurf an ihn: Er ignoriere historische Quellen, die nicht zu seinem Lebensthema passen, bewusst.

Gibt es einen wahren Kern?

Eins jedoch scheint sicher: Eine rein objektive Geschichtsschreibung gibt es nicht. Die Aussagen von Zeitzeugen und Geschichtsschreibern sind stets subjektiv eingefärbt. So schreibt beispielsweise die Universität Konstanz: "Eines der vielleicht wichtigsten Probleme ist für den Historiker dabei, dass er die Geschichte erinnerungstheoretisch rekonstruiert, zugleich aber selbst als Individuum in einem lebensgeschichtlichen Kontext mit seinem Thema steht."

Um sich nicht nur auf die Aussagen von Zeitzeugen zu verlassen, zieht die Geschichtswissenschaft zahlreiche weitere Disziplinen, wie etwa die Astronomie oder die Archäologie, zu Rate.

Die steile These Heribert Illigs hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand und wird von vielen schnell ins Reich der Verschwörungstheorien verbannt. Eine aufmerksame Quellen-Kritik, ob sich auch alles wirklich so zugetragen hat, wie die Geschichtsschreiber früherer Zeiten es dokumentiert haben, bleibt weiterhin eine essenzielle Aufgabe modernen Historiker.

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