"Der weiße Schamane" ist eine von über 200 antiken Wandmalereien nahe des Rio Grande in Texas. Die unvergleichlichen Kunstwerke enthalten offenbar versteckte Botschaften aus der Vergangenheit. Stammen sie von einer mysteriösen Religion von vor 4.000 Jahren?

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Die Farben sind schon lange verblasst, zu erkennen sind die immer wiederkehrenden Motive in rot und gelb auf schwarz trotzdem noch: geschmückte Menschen, Tiere mit Geweihen und abstrakte Formen.

Sie sind Teil von mehr als 200 Wandmalereien im und nahe des Seminole Canyon State Park in Südtexas. Besonders berühmt ist die "Weißer Schamane" genannte, acht mal vier Meter große Wandmalerei in einer schwer zugänglichen Höhle. Die schimmernde Figur liegt im Zentrum.

Wer unweit der Grenze zu Mexiko auf dem Pecos River und parallel zum Rio Grande entlangfährt, ahnt nicht, was es in den verlassenen Höhlen in der Nähe zu sehen gibt.

Nur wenige Stellen sind überhaupt für die Öffentlichkeit zugänglich. Aber schon vor 12.000 Jahren lebten dort Jäger und Sammler. Und vor etwa 4.000 Jahren verewigte sich eine unbekannte Kultur mit rätselhaften Kunstschätzen – direkt auf Stein gemalt.

Der Weiße Schamane als zentrales Wandbild

Wer waren diese Ureinwohner und was wollten sie mit ihren Wandmalereien mitteilen? Viele Archäologen glaubten, dass das Werk kämpfende menschliche Figuren zeigt.

Doch was sollte das heißen? Das blieb ein Rätsel. Die meisten Bücher zum Thema kamen zu dem Schluss, dass niemand es lösen könne. Bis eine ehemalige Künstlerin und jetzige Anthropologin sich der Sache annahm.

Carolyn Boyd forscht seit 1988 zu den Wandmalereien. Sie schrieb sich dafür extra mit 33 Jahren an der Universität ein.

Dann ordnete sie das Chaos der scheinbar abstrakten Abbildungen. Dank ihres künstlerischen Auges wurde ihr klar, dass es sich bei den über viele Felswände verteilten Piktogrammen nicht um einzelne, zufällige Motive handelte.

Tatsächlich handelt es sich wohl um ein System: Die Ureinwohner nutzten die Felsen als Buch mit weißen Seiten. Sie füllten es, indem sie ihre Geschichten direkt auf die Steine malten.

Anleitungen für schamanische Opferrituale

Aber wen oder was wollten die Menschen abbilden? Um das herauszufinden, studierte die Wissenschaftlerin die Bräuche und Legenden mexikanischer und südwest-amerikanischer Ureinwohner. Deren Schamanen teilen den Kosmos in drei Teile auf: Himmel, Erde und Unterwelt.

Die Figuren auf den Felsen befinden sich auf, über und unter welligen Linien. Boyd ist sich sicher: Auf den Felsen sind Leben, Tod, Wiedergeburt und Schamanen auf dem Weg ins Land der Geister abgebildet.

Seltsam ist aber eine menschliche Figur, die in fast allen Piktogrammen zu sehen ist. Sie trägt ein Geweih mit schwarzen Punkten an den Enden. Wofür sie stehen könnte, verraten die modernen Schamanen.

Bei einigen ihrer Opferrituale tragen sie Tierfelle mit Kopf und Geweih. Daran festgebunden sind Bänder, die im Wind wehen. War es das, was Ureinwohner vor Jahrhunderten versuchten abzubilden?

Abschnitte der Wandbilder könnten demnach Teile einer komplexen, religiösen Zeremonie zeigen. Oder sogar eine Anweisung, wie geistliche Anführer ein Ritual ordnungsgemäß durchzuführen hatten.

Parallelen zu Mythen der Huichol-Indianer

Diese Theorie lässt sich mit einem Mythos der mexikanischen Huicholen belegen. In deren Schöpfungsgeschichte spielte ein heiliges Reh eine wichtige Rolle. Es führte die Menschen erfolgreich durch die Unterwelt und opferte sich dann selbst.

Als es tot war, sprossen Peyotl-Kakteen aus seinem Körper und Geweih. Nachdem die Menschen diese aßen, wurden sie zu Gottheiten und der Kosmos nahm seinen Anfang.

Wer diese Geschichte kennt und dann auf die Wandmalerei "Weißer Schamane" in der Höhle schaut, wird sich wundern. 2010 lud Boyd einen Huichol-Schamanen in die Höhle ein. Unter Tränen sagte er: "Das sind die Großväter meiner Großväter meiner Großväter meiner Großväter."

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