Kein anderes Fabelwesen gilt als so rein, so gutherzig und so edel: Das Einhorn tauchte schon vor hunderten Jahren in Legenden auf. In vielen Teilen der Welt wurde im Lauf der Zeit angeblich eins gesehen. Doch tatsächlich machte ein Fehler in der Bibel das magische Tier erst zum Mythos.

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Aufblasbare Gummitiere fürs Schwimmbad, Schokoladen-Verpackung oder Deko im Kinderzimmer: Einhörner sind zum Hype geworden und gehören selbstverständlich zur Popkultur.

Die Fabelwesen sind oft zusammen mit einem Regenbogen zu sehen, und zusammen verkörpern sie eine magische, heile und märchenhafte Welt.

Dabei ist der Mythos vom Einhorn uralt. Aristoteles erwähnte das Fabeltier ebenso wie Julius Cäsar, das frühchristliche Volksbuch Physiologus 200 Jahre vor Christus und später Leonardo da Vinci. Das weiße Pferd gilt seit dem Mittelalter als Symbol für das Gute, es besitzt angeblich sogar Zauberkräfte.

Das schneckenartige und am Ende spitz zulaufende Horn auf der Stirn ist sein besonderes Kennzeichen. Mit ihm kann es angeblich heilen und Tote wiederbeleben.

Erstaunlicherweise verdankt es seine Popularität einem Übersetzungsfehler vor 2000 Jahren.

Wie aus dem Auerochsen ein Einhorn wurde

Im Alten Testament der Bibel wird mehrmals ein wildes und starkes Tier erwähnt, das "Re'em". Nur: Welche Art von Tier war damit wohl gemeint?

Darüber rätselten 72 Übersetzer, die den hebräischen Text im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ins Griechische übertragen sollten. Die Männer tauften das merkwürdige Tier "Monokeros" – und das heißt auf Deutsch Einhorn.

Martin Luther bezeichnete das Tier viele Jahrhunderte später in seiner Bibel-Übersetzung folgerichtig als "Einhorn". Heute gehen Forscher davon aus, dass mit dem "Re’em" in Wahrheit ein ganz normaler Auerochse gemeint war, und der hat zwei Hörner.

Die Wirkung der Bibel und vermeintliche Augenzeugen

Aber die angebliche Erwähnung eines Einhorns in der Bibel hatte weitreichende Folgen: Das war für viele der Beweis, dass das Tier wirklich existierte.

Erst im 18. Jahrhundert deckte ein Gelehrter den falschen Namen in der Bibel auf. Doch da war es schon zu spät – das Einhorn war in die Geschichte eingegangen.

Im Lauf der Jahre meldeten sich sogar Augenzeugen zu Wort, die das wundersame Tier aufgespürt haben wollten.

Einer davon war Marco Polo, der es angeblich im 13. Jahrhundert auf Sumatra entdeckt hatte. Der englische Abenteurer Edward Webbe erklärte im 16. Jahrhundert, er habe gleich drei der seltenen Tiere bei einem indischen Sultan gesehen.

In Äthiopien erspähte der portugiesische Jesuit Jerónimo Lobo im 17. Jahrhundert nach eigenen Angaben ein Exemplar.

Das Einhorn kuriert Lepra, Pest und Fieber

Auch in zahlreichen Schriften des Mittelalters kommt das Einhorn vor, etwa beim Kirchenlehrer Albertus Magnus im 13. Jahrhundert.

Besonders das Horn faszinierte die Menschen. Mit ihm konnte das Tier zaubern und Krankheiten kurieren, glaubten sie.

Einer Legende zufolge saß unter dem Horn ein sogenannter Karfunkelstein, der heilende Kräfte besaß. Die mittelalterlichen Alchemisten verehrten das Einhorn als reines und heilbringendes Wesen.

Die Nonne und Universalgelehrte Hildegard von Bingen empfahl im zwölften Jahrhundert die Leber von Einhörnern als Heilmittel gegen Lepra, die Haut sollte Pest und Fieber bekämpfen. Auch in anderen medizinischen Werken kommt das Fabelwesen vor.

Kein Wunder, dass viele Apotheken bis heute das Einhorn als Symbol verwenden. Der Mythos beflügelte aber auch dubiose Geschäftemacher: Sie verkauften ein Pulver, das angeblich aus dem Horn gemacht wurde und das als Medizin dienen sollte.

Weil es die echten Hörner natürlich nicht gab, benutzten die Betrüger meist die Stoßzähne von Narwalen. Auch der noch heute genutzte Thron von Dänemark sollte angeblich aus Einhorn-Hörnern bestehen: In Wahrheit sind es aber Walzähne.

Das Einhorn als wildes Tier

Ursprünglich besaß das Einhorn allerdings gar nicht die sanften Eigenschaften, die ihm später zugeschrieben wurden.

Ktesias von Knidos beschrieb um das Jahr 500 vor Christus wilde Tiere in Indien, deren Horn gegen Gifte half und das deshalb als Trinkgefäß benutzt wurde. Im altindischen Epos Mahabharata aus der Zeit ab 400 vor Christus galt das Einhorn als Phallus- und Fruchtbarkeitssymbol.

Erst im Mittelalter wandelt sich die Legende: Erst dann galt das Wesen als gütig und magisch. In vielen Sagen wohnte es nun in Wäldern oder Gärten und bewachte die Natur.

Das Einhorn in Kunst und Kultur

Einhörner tauchen seit Jahrhunderten auch auf Bildern und Wappen auf, etwa in einer christlichen Miniatur aus dem 12. Jahrhundert: Maria beschützt darin ein Einhorn auf ihrem Schoß.

Raffael malte um 1506 die "Dame mit dem Einhorn", im "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch von 1500 ist das Fabelwesen ebenfalls zu sehen.

In der schottischen Version des britischen Königswappens hält ein Einhorn ein Schild. Mehrere Wappen von Städten zeigen ebenfalls ein weißes Pferd mit Horn, etwa das von Schwäbisch Gemünd.

Die Gebrüder Grimm lassen im "Tapferen Schneiderlein" ein bösartiges Einhorn erscheinen, und später spielen zumindest die Hörner der Tiere bei Harry Potter und in der "Unendlichen Geschichte" von Michael Ende eine Rolle.

In den 1980er-Jahren sorgten der Zeichentrickfilm und das gleichnamige Lied "The last Unicorn" ("Das letzte Einhorn") für einen Einhorn-Hype im 20. Jahrhundert.

Ochsen und Rehe statt echter Einhörner

Aber wieso waren sich früher so viele Menschen sicher, dass es ein Tier mit einem Horn überhaupt gab? Die antiken Übersetzer des Alten Testaments hatten sich womöglich auf Bilder verlassen, die sie einmal gesehen hatten.

Bei ihrem Versuch, das merkwürdige Wesen zu erklären, erinnerten sie sich an Darstellungen von Ochsen auf Reliefs und Wandmalereien: Die Tiere waren dort im Profil zu sehen, also nur einem Horn. Andere angebliche Augenzeugen verwechselten Einhörner vermutlich mit Nashörnern oder Oryxantilopen.

Forscher haben aber seit 2008 noch eine andere Erklärung, wie der Mythos entstanden sein kann: Damals wurde in der Toskana ein zehn Monate altes Reh entdeckt, das nur ein Horn besaß.

Diese Laune der Natur war wahrscheinlich auch schon früher bei Rehen, Hirschen oder anderen Tieren vorgekommen – und hatte die Phantasie der Beobachter beflügelt.

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