Es ist das wohl rätselhafteste Buch der Welt. Das Voynich-Manuskript enthält 246 handgeschriebene Seiten mit knapp 170.000 Schriftzeichen sowie unzählige Bilder von nackten Frauen, Sternbildern und Pflanzen. Doch lesen kann das Werk bis heute niemand, es ist in einer unbekannten Schrift verfasst. Was steckt dahinter?
Zahlreiche Experten haben sich an der Entschlüsselung versucht und teilweise skurrile Theorien aufgestellt – aber keine konnte bewiesen werden. So gibt es unzählige Spekulationen rund um das Manuskript und seine Entstehung. Ist es 500 Jahre alt und enthält geheime medizinische Rezepte? Oder stammt es von einem der berühmtesten Gelehrten des Mittelalters und ist damit viel älter? Ist es womöglich eine Fälschung vom Anfang des 20. Jahrhunderts? Hat sich irgendwann im Lauf der Zeit jemand einen Spaß erlaubt und steht eigentlich nur Unsinn in dem Buch? Haben Aliens es hinterlassen?
Unbekannte Sprache oder verschlüsselter Text?
Das Buch fasziniert Laien und Forscher bis heute, immer noch versuchen einige, ihm sein Geheimnis zu entlocken. Das Voynich-Manuskript hat keinen Titel, auch ein Autor wird nicht genannt. Es ist aus mehreren Lagen von Pergament-Blättern zusammengeheftet.
Zwischen 20 und 30 verschiedene Zeichen werden verwendet. Sprachforscher fanden heraus: Die Wörter lassen sich zwar nicht lesen, erinnern aber in ihrer Verwendung an eine natürliche Sprache: Manche erscheinen nur auf einigen Seiten, andere sehr häufig. Am Ende des Werkes finden sich drei Zeilen mit Zeichen, die Forscher als möglichen Schlüssel ansehen, um den Text zu enträtseln. Diese Zeichen erinnern eher an bekannte Schriften. Niemand weiß, ob der Manuskript-Text nur verschlüsselt ist, ob er in einer unbekannten Sprache verfasst ist, ob es sich um eine Kunstsprache handelt, oder ob der Text einfach sinnlos ist.
Schwangere Frauen und rätselhafte Pflanzen
Das Buch ist in sechs Sektionen unterteilt, die jeweils unverständlichen Text sowie kolorierte Zeichnungen enthalten. In einem Abschnitt sind ganzseitige Zeichnungen von Pflanzen und Kräutern zu sehen, zum Teil mit Gefäßen, wie sie Apotheker nutzten, in einem anderen nackte Frauen, in einem weiteren Sternbilder. Auch die Bilder werfen viele Fragen auf. Die Sternbilder sind unbekannt. Niemandem ist es bislang gelungen, die Pflanzen zu bestimmen. Und was bedeuten die nackten Frauen mit gewölbten Bäuchen, die in mit Röhren verbundenen Wannen liegen? Sind sie schwanger? Sollen sie Fortpflanzungsorgane symbolisieren, oder keltern sie Wein? Oder baden sie ganz einfach nur?
Jeder Versuch, eine Frage zu klären, wirft neue Probleme auf. Ein Botaniker glaubte, eine Sonnenblumenart identifizieren zu können. Doch die war in Europa vor Kolumbus' Entdeckung Amerikas unbekannt. Damit müsste das Buch nach 1493 entstanden sein.
Ein vorheriger Besitzer: der Kaiser
Im Buch aber lag ein Brief, der angeblich von einem der früheren Besitzer stammt, Johannes Marcus Marci. Der Arzt und Philosoph lebte im 17. Jahrhundert in Prag. In dem Schriftstück werden weitere vorherige Besitzer genannt, unter anderem Rudolf II. von Habsburg, bis zu seinem Tod 1612 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Der Monarch sei davon ausgegangen, dass der englische Philosoph und Mönch Roger Bacon alias Doctor Mirabilis das Buch geschrieben habe. Dieser lebte im 13. Jahrhundert und gilt als einer der bedeutendsten Gelehrten des Mittelalters.
Allerdings kamen Experten in den 1960er Jahren zu dem Schluss, dass die Frisuren der abgebildeten Frauen auf die Zeit um das Jahr 1500 passen. Auf einem Bild ist eine Burg mit einer bestimmten Zinnenform zu sehen – die kam ebenfalls zu dieser Zeit ausschließlich in Oberitalien vor. Das verwendete Pergament datierten Forscher auf den Zeitraum zwischen 1404 und 1438.
Der Finder: ein Büchersammler
Schon zu Marcis Zeiten versuchte man, das Buch zu entziffern. Auf einer der Manuskriptseiten steht der handgeschriebene Name Jakub Horcicky de Tepenec, Hofpharmazeut des Kaisers Rudolf II. Er konnte das Mysterium aber ebenso wenig lösen wie der ebenfalls im Brief genannte Prager Alchimist Georg Baresch. Marci vererbte das Werk einem Jesuitenorden im heutigen Italien, wo es mehrere Hunderte Jahre vergessen in einer Kiste lag. Erst 1912 wurde es entdeckt – vom amerikanischen Büchersammler Wilfrid Michael Voynich. Er erwarb das Buch mit 30 anderen Handschriften. Das behauptete zumindest seine Witwe in einem Brief, der nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
Voynich vererbte das Buch seiner Frau und deren Lebensgefährtin, seiner langjährigen Sekretärin. Diese verkaufte das Manuskript 1960 für 25.000 Dollar an einen Buchhändler. Dieser stiftete es 1969 der Yale-Universität in den USA, wo das Buch noch heute in einer Bibliothek für seltene Bücher und Manuskripte aufbewahrt wird.
Mikroschrift, Ziffern, Aliens und eine vergessene Sprache
Seitdem fühlten sich viele Laien und Experten herausgefordert, den Text zu lesen. Einer der ersten, der meinte, das Geheimnis aufgedeckt zu haben, war der Philosoph William Romaine Newbold, den Voynich um Hilfe gebeten hatte. 1921 erklärte er das Rätsel für gelöst. Er war sicher: In den Schriftzeichen verbargen sich mikroskopische kleine andere Kurzschriftzeichen aus dem Altgriechischen. In dem Schlüssel auf der letzten Seite wollte er sogar den Namen von Roger Bacon in Form eines Anagramms herausgelesen haben. Doch Newbold kam mit dem Entziffern auch nicht weit: Nach seinem überraschenden Tod 1926 versuchten andere Experten mit seiner Methode, die Zeichen zu lesen, hatten aber keinen Erfolg.
Seine Theorie von einer Mikroschrift wurde später von einem anderen Experten ins Reich der Phantasie verwiesen: Ein Professor für englische Sprache meinte, die Unregelmäßigkeiten der Schriftzeichen stammten vom Auftragen der Tinte. Es gab weitere Thesen über die verwendete Schrift und Sprache: Der Anwalt Joseph Martin Feely glaubte, dass der Text eigentlich auf Latein formuliert war, dass dann aber Buchstaben weggelassen wurden – und dann jeder Buchstabe durch ein anderes Zeichen ersetzt wurde. Doch wenn man diesen Code auf das Buch anwendet, kommt kein sinnvoller Text heraus. Mehr als 30 andere Thesen wurden aufgestellt. Demnach waren die Zeichen etwa eigentlich Ziffern, die den Buchstaben des lateinischen Alphabets zugeordnet werden können, oder stammen aus einer mittelamerikanischen oder semitischen Sprache, die heute niemand mehr kennt. Alien-Gläubige sind dagegen sicher, dass Aliens das Buch auf die Erde gebracht haben.
Das Voynich-Manuskript ist so mysteriös, dass es in vielen Büchern, Filmen und sogar in Computerspielen auftaucht. Es spielt unter anderem eine Rolle im Roman "Indiana Jones und der Stein der Weisen", in Dan Browns Thriller "The Lost Symbol" und in der "Assassin's Creed"-Spielereihe.
Anleitung zur Abtreibung oder ein Lehrbuch
Viele Spekulationen ranken sich auch um den Inhalt des Buchs: Stehen darin verschlüsselte Informationen, von denen die Inquisition nichts erfahren sollte? Oder ist es ein Lehrbuch für Apotheker, Astrologen und Alchimisten? Es könnte sich auch um eine Abhandlung zur Abtreibung handeln, meinen einige. Dafür sprechen die Frauen mit gewölbten Bäuchen und die Kräuter. Der Text wäre verschlüsselt, damit Unbefugte den Inhalt nicht lesen können. Allerdings sind in dem Buch mehr als 100 Pflanzen abgebildet – so viele würde man kaum für eine Abtreibung benötigen.
Einer der herausragenden Kryptologen des 20. Jahrhunderts, William Friedman, rückte dem Buch mit Hilfe von Lochkarten und Computern zu Leibe. Friedmann hatte im Zweiten Weltkrieg entscheidende Codes entschlüsselt. Am Voynich-Manuskript scheiterte auch er, obwohl er sich mehrere Jahre damit beschäftigte. Er glaubte, dass das Buch in einer künstlichen Sprache verfasst wurde, die eigens zu diesem Zweck erfunden wurde. Wenn das stimmt, wäre es fast unmöglich, den Text zu lesen, weil niemand weiß, wie die Kunstsprache aufgebaut ist.
Schabernack oder eine mysteriöse Fälschung
Vielleicht enthält das Buch aber auch gar keinen sinnvollen Text, sondern ist ein reiner Schabernack, und es hat sich ein unbekannter Verfasser einen Spaß erlaubt? Dagegen spricht, dass das Manuskript auf teurem Pergament geschrieben und aufwendig gestaltet ist.
Aber vielleicht ist des Rätsels Lösung auch ganz einfach – und das Buch ist eine Fälschung von Anfang des 20. Jahrhunderts. Dann wären die Bilder und der Text reine Erfindungen ohne jeden Sinn. Aber auch diese Theorie wirft neue Fragen auf: Wer ist für die Fälschung verantwortlich? Der Finder Voynich selbst? Dagegen spricht, dass er viele Jahre lang versucht hat zu beweisen, dass Roger Bacon der Autor des Werks war.
Auch wenn Forscher bis heute fasziniert sind von dem mysteriösen Buch: Womöglich wird es sein Geheimnis nie preisgeben.
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