Lebensmittel, Shampoos, Duschgels oder Getränke: Viele Unternehmen bewerben ihre Produkte, indem sie Klimaneutralität versprechen. Doch dabei werden die potenziellen Kunden oft mit falschen Behauptungen zum Kauf bewogen. Wie Unternehmen vorgehen und wieso es Klimaneutralität gar nicht geben kann, erzählt Agnes Sauter vom Deutsche Umwelthilfe e.V. im Interview.

Ein Interview

Frau Sauter, der Deutsche Umwelthilfe e.V. klärt immer wieder über falsche Versprechen von Klimaneutralität auf. Wie groß ist das Problem?

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Agnes Sauter: Zunehmend stellen wir fest, dass Unternehmen Greenwashing betreiben. Verbraucherinnen und Verbraucher achten zunehmend auf die Auswirkungen ihres Konsums. Insofern verschaffen sich Unternehmen, die mit solchen Merkmalen werben, außerordentliche Wettbewerbsvorteile. Und diesen vermeintlichen Umweltvorteilen gehen wir derzeit konsequent und gezielt nach.

"Es gibt kein klimaneutrales Produkt"

Was sind das für Unternehmen?

Von Cent-Artikeln reicht das bis zu großen Dienstleistungen von Banken, wie etwa das klimaneutrale Bankkonto. Ganze Unternehmen bezeichnen sich als klimaneutral. Das findet seine Zuspitzung in Begriffen wie "klimapositiv". Es gibt zum Beispiel eine Biersorte, die sich als klimapositiv bewirbt. Das heißt: Je mehr Sie Bier trinken, desto mehr schützen Sie das Klima. Dreister geht es eigentlich gar nicht mehr. Aber wir haben verschiedene Unternehmen im Fokus. Das reicht von den großen Mineralölkonzernen, die zum Beispiel ihr Heizöl als klimaneutral bewerben, bis hin zu klimaneutralem Motorenöl. Und das ist Irrsinn, weil die Nutzung dieses Produkts ja CO2 verursacht.

Was bedeutet Klimaneutralität überhaupt? Kann man etwas produzieren, ohne dabei in irgendeiner Art und Weise das Klima zu schädigen?

Letztendlich verursacht jedes Produkt, das verarbeitet wird, CO2-Emissionen. Es gibt kein klimaneutrales Produkt, das wird es auch nicht geben.

Vor allem im Beauty-Bereich werden viele Produkte mit Klimaneutralität beworben.

Genau. Da haben wir im Konsumgüter-Bereich zum Beispiel die Beiersdorf AG mit ihrer Pflegeserie Nivea. Dort werden Pflegeduschen oder Seifen als klimaneutral bezeichnet. Auch die Drogeriemarktketten DM und Rossmann haben wir im Fokus, die ihre günstigen Produkte als klimaneutral bezeichnen. Das sehen wir als grob irreführend an, weil wir feststellen, dass es nicht die Prozesse sind, die im Unternehmen nachhaltig gestaltet werden. Sondern es wird versucht, über sogenannte Kompensationsprojekte, die das Produkt ein paar Cent teurer machen, dieses als klimaneutral zu verkaufen.

Klimaneutralität durch Kompensationsprojekte?

Was hat es damit auf sich?

Wir schauen uns an, wie diese Klimaneutralität begründet wird. Meistens basiert die Behauptung auf Kompensationsprojekten. Das ist ein freier, unregulierter Markt. Häufig gibt es Anbieter von solchen Kompensationsprojekten. Diese haben ein Portfolio mit Projekten. Das sind zum Beispiel Windkraft-Projekte oder Wasserkraft-Projekte, die aber überwiegend im globalen Süden stattfinden. Doch CO2 bleibt über viele Jahrhunderte in der Erdatmosphäre. Und die Projekte, insbesondere die Wald-Projekte, garantieren nicht diese lange Betriebsdauer. Denn angesichts des zunehmenden Klimawandels kommt es zu Dürren und Waldbränden im globalen Süden. Diese Projekte können nicht versprechen, so lange betrieben zu werden, wie CO2 in der Atmosphäre verweilt.

Wir versuchen also, unsere CO2-Bilanz aufzubessern, indem wir Tausende Kilometer entfernt Bäume pflanzen…

Genau. Das ist ein Punkt, der auch noch hinzukommt. Hier im globalen Norden verursachen wir durch unseren Konsum jede Menge CO2. Doch der Ausgleich findet in Ländern statt, die mit am wenigsten CO2 emittieren. Das halten wir für unmoralisch und nicht zielführend. Wir engagieren uns auch auf EU-Ebene und fordern, dass der Begriff "Klimaneutralität" grundsätzlich verboten wird. Denn das ist ein absoluter Begriff, der kaum zutreffen kann. Unternehmen sollen echte Klimaschutzprojekte gerne unterstützen, aber sie sollten ihre Produkte deshalb nicht als klimaneutral bezeichnen dürfen.

Die Kompensationsprojekte an sich würden Sie also als "gut" bezeichnen?

Es ist gut, wenn Unternehmen Projekte unterstützen, die tatsächlichen Klimaschutz bewirken und in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung durchgeführt werden. Wenn man sich aber die Projekte genauer ansieht, mit denen das meiste CO2 angeblich kompensiert wird, stellt man fest, dass daran alle möglichen verdienen, nur nicht die Kleinbauern vor Ort, die letztendlich die Wälder schützen. Und das ist ein Dilemma. Unternehmen kaufen sogenannte "Emissionsgutschriften" von Brokern, die einen Teil des Geldes einstreichen. Dann verdienen noch die Zertifizierer etwas dabei, die diese Projekte für gut befinden. Aber beim lokalen Kleinbauern kommt ganz wenig an. Deswegen lieber Projekte unterstützen, die diese lange Kette auslassen und sich gerne klimafreundlich nennen dürften. Das halten wir für den besseren Weg.

Wie bekommt ein Produkt den Stempel klimaneutral oder klimafreundlich? Welche Kriterien müssen erfüllt sein? Und wer hat diese festgelegt und überprüft das Ganze?

Da sprechen Sie die richtig großen Probleme an. Da wird ein Siegel von einem Unternehmen vergeben, ein Klimaneutralitäts-Siegel, und das signalisiert natürlich, dass das offizielle Standards sind, nach denen ein Projekt überprüft wurde. Das unterliegt aber keinerlei staatlicher Kontrolle. Wir arbeiten deswegen mit Experten zusammen, die diese Projekte vor Ort begutachten. Ein Beispiel: Da wird im Rahmen der Zertifizierungen behauptet, dass eine Trocknungsanlage für Paranüsse im peruanischen Amazonasgebiet die Einnahmen für die lokale Bevölkerung generieren soll. Aber dann stellen wir fest, dass diese Anlage gar nicht gebaut wurde. Die Projektbetreiber blähen oft auch die Menge der angeblich eingesparten Emissionen auf, die Kompensationszertifikate sind dann sozusagen ungedeckte Schecks, die dem Klima schaden. Deswegen lehnen wir diese freiwilligen Siegel komplett ab, weil sie keine offiziellen Standards haben.

"Wir konfrontieren die großen Unternehmen mit diesen Vorwürfen"

Verbraucherinnen und Verbraucher verlassen sich auf diese Siegel. Aber da wird man einfach getäuscht.

So ist es tatsächlich. Sie können sich vorstellen, dass da natürlich sehr große Lobbyinteressen dahinterstehen, um diesen freien Zertifikate-Markt auch weiter aufrechtzuerhalten. Aber dann müssen zumindest ein paar Mindeststandards gegeben sein. Da gehört zum Beispiel dazu, dass Unternehmen darstellen, wie sie eigene Emissionsreduzierung in ihren Produktionsabläufen erreichen. Zum Beispiel, dass die Flotte auf E-Mobilität umgestellt wird. Oder wir haben es jetzt bei der Drogeriemarktkette Rossmann erlebt: Da wurde die Beleuchtung in den Filialen auf LED umgestellt. Solche Anstrengungen müssen erkennbar sein.

Sie informieren Verbraucherinnen und Verbraucher über solche Tricks. Sie haben bereits große Marken wie Beiersdorf angesprochen. Wie kontaktieren Sie diese Unternehmen und was passiert dann?

Wir sind ein klagebefugter Verbraucherschutz-Verband. Dadurch sind wir in der Lage, das Recht verbindlich durchzusetzen. Sie können sich das so vorstellen: Wir konfrontieren die großen Unternehmen mit diesen Vorwürfen. Zum Beispiel damit, dass sie intransparent sind und Verbraucher denken, man könne das Produkt ohne klimaschädliche Auswirkungen nutzen. Allerdings fließen bei den Unternehmen Unmengen an Geldern in diese Marketingmaßnahmen. Unternehmen erhoffen sich Wettbewerbsvorteile dadurch, dass ihre Produkte wegen vermeintlicher Klimaneutralität stärker nachgefragt werden. Deswegen danken sie natürlich nicht für den Hinweis und ändern ihr Verhalten, sondern meistens muss das tatsächlich auch gerichtlich ausdiskutiert werden. Wir haben jetzt gerade fünf Gerichtsverfahren laufen. Letztendlich wollen wir, dass den Unternehmen gerichtlich untersagt wird, in dieser intransparenten und unwahren Form zu werben. Und: Wir haben Erfolge.

Wie umweltfreundlich ist ein Produkt wirklich? Tipps für Verbraucher

Was können Verbraucherinnen und Verbraucher tun, um nicht auf solche Produkte "hereinzufallen"?

Ich würde dazu raten, sich die Website des Unternehmens anzuschauen. Welche Anstrengungen unternimmt ein Unternehmen? Wie sehen die eigenen Produktionsabläufe aus? Welche Zulieferer hat das Unternehmen? Ist das Produkt reparierbar? Wie ist die Verpackung gestaltet? Ich brauche beispielsweise keine Zahncreme, die noch mal in einer Verpackung ist. Ist es in Plastik verpackt? Plastik ist ja auch CO2-verursachend. Das sind so die einfachen Dinge, auf die ein Verbraucher achten kann.

Und was können Verbraucherinnen und Verbraucher bewusst im Laden tun? Nicht jeder sieht sich vorher die Websites an…

Nachhaltiger zu konsumieren kann für Verbraucherinnen und Verbraucher durchaus überfordernd sein, da es mit einem zusätzlichen Zeit- und Informationsaufwand verbunden sein kann. Wir empfehlen daher, nicht zu viel auf einmal zu versuchen, sondern sich zu Beginn erst mal ein spezifisches Konsumfeld vorzunehmen, beispielsweise Lebensmittel. Sobald der nachhaltigere Konsum ganz gut klappt, kann man sich dann weitere Konsumfelder vornehmen. Bei Lebensmitteln gilt: Nur so viel zu kaufen, wie Sie auch verwerten können, um Lebensmittelabfälle zu vermeiden. Außerdem können Sie – sofern es finanziell möglich ist – auf die Regionalität der Produkte achten, um lange CO2-intensive Transportwege der Produkte zu vermeiden, wenig verarbeitete und möglichst plastikfreie Produkte kaufen sowie auf eine fleischarme Ernährung setzen. Nachhaltiger zu konsumieren bedeutet in erster Linie, dass klassische Konsummuster hinterfragt werden.

Was sollte man sich vor einem Einkauf fragen?

Brauche ich das Produkt wirklich? Falls diese Frage mit "Nein" beantwortet wird, sollte die Kaufentscheidung überdacht werden. Falls sie mit "Ja" beantwortet wird, sollte man sich noch diese Fragen stellen: Kann ich mir das Produkt auch leihen? Falls ja, sollte bevorzugt ein Leihservice gewählt werden. Falls nein, sollte man sich fragen, ob man das Produkt gebraucht oder secondhand kaufen kann. Falls "nein": Gibt es das Produkt von ökologisch und sozial zertifizierten Marken oder Anbietern? Und werden für den Fall eines Defektes Reparaturservices angeboten? Handelt es sich um ein modulares Produkt? Das heißt, es können einzelne Produktteile ersetzt oder repariert werden, ohne das gesamte Produkt austauschen zu müssen.

Über die Expertin: Agnes Sauter ist Bereichsleiterin für ökologische Marktüberwachung beim Deutsche Umwelthilfe e.V..
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