In großen Natursystemen drohen durch die Klimakrise unumkehrbare Veränderungen. In einer neuen Studie haben sich Forschende vier davon angeschaut, darunter auch den für Europa wichtigen Golfstrom. Sollte er schwächer werden, hätte das große Auswirkungen auf die Temperaturen auf unserem Kontinent.
Sollte die gegenwärtige weltweite Klimapolitik fortgesetzt werden, drohen kritische Elemente des Erdsystems zu kippen. Das ist das Ergebnis von Modellsimulationen, die eine Forschungsgruppe um Nico Wunderling vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) in Potsdam und Tessa Möller vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg (Österreich) durchgeführt hat. Diese Kipprisiken könnten minimiert werden, wenn die globale Erwärmung rasch umgekehrt werde.
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In ihrer Studie, die im Fachjournal "Nature Communications" erschienen ist, untersuchten die Forschenden vier zentrale Klima-Kippelemente:
- den grönländischen Eisschild,
- den westantarktischen Eisschild,
- die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) und
- den Regenwald im Amazonas.
Das Konzept der Kipppunkte nimmt an, dass einige Teilsysteme des Klimasystems bestimmte kritische Schwellenwerte haben, bei deren Überschreiten es zu starken und teils unaufhaltsamen und unumkehrbaren Veränderungen kommt. Deswegen solle ein Überschreiten der Kipppunkte unbedingt vermieden werden, schreiben die Autorinnen und Autoren in ihrer Studie.
Amazonas als Savanne, Atlantik ohne Golfstrom
In Bezug auf die beiden untersuchten Eisschilde meinen sie: Werden bei ihnen Kipppunkte erreicht, dann könnten Rückkopplungsprozesse dafür sorgen, dass deren Abschmelzen unvermeidbar wird. Die Folge wäre ein meterhoher Anstieg des Meeresspiegels.
Das Amazonasgebiet in Südamerika wiederum gilt als grüne Lunge des Weltklimas. Falls dort der Kipppunkt erreicht wird, der das Gebiet zu einer Savanne werden lässt, dann beeinflusse dies das gesamte Weltklima negativ. Teil der AMOC ist der für Europa wichtige Golfstrom. Sollte dieser schwächer werden oder ganz zum Erliegen kommen, würden die Durchschnittstemperaturen in Europa deutlich sinken.
Für diese vier Klimaelemente, die sich auch gegenseitig beeinflussen, simulierten die Forschenden in verschiedenen Szenarien die Entwicklung bis 2300 und 50.000 Jahre in die Zukunft. Weil die detaillierten Erdsystemmodelle derzeit noch nicht in der Lage sind, die komplexen Prozesse und Wechselwirkungen zu berechnen, nutzte das Forschungsteam ein stilisiertes Modell, das auch einen Ausblick in die ferne Zukunft zulässt.
"Unsere Berechnungen zeigen: Bleibt es in diesem Jahrhundert beim Stand gegenwärtiger Klimapolitik und bestehender Klimaschutzmaßnahmen, besteht ein hohes Risiko von 45 Prozent, dass mindestens eines der vier untersuchten Elemente bis 2300 kippt", wird Möller in einer Mitteilung des PIK zitiert.
Die Studie beschäftigt sich auch damit, wie lange der Prozess des Kippens dauert: Beim Golfstrom und dem Amazonas könnte es sich innerhalb von Jahrzehnten vollziehen, bei den Eisschilden könnte das Abschmelzen Tausende Jahre dauern.
Ab 1,5 Grad zählt jedes Zehntel
Mit dem Überschreiten der 1,5-Grad-Marke nimmt das Kipprisiko den Berechnungen zufolge mit jedem Zehntelgrad zu, ab der Zwei-Grad-Marke sogar noch schneller. "Das ist besorgniserregend, da Szenarien, die sich an der gegenwärtig umgesetzten Klimapolitik orientieren, bis zum Ende dieses Jahrhunderts schätzungsweise zu einer globalen Erwärmung von 2,6 Grad Celsius führen werden", sagt PIK-Forscherin Annika Ernest Högner, eine der Leitautorinnen. Die Frage, ob es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gelingt, die Emissionen deutlich zu senken, habe Auswirkungen weit in die Zukunft.
Am geringsten ist das Kipprisiko in Szenarien, in denen bis 2100 die Treibhausgas-Emissionen in der Nettobilanz auf null reduziert und dauerhaft auf diesem Niveau gehalten werden; es liegt bei weniger als zehn Prozent. Wenn die Netto-Null nicht dauerhaft eingehalten wird, steigt das Kipprisiko in den kommenden 50.000 Jahren auf mehr als 50 Prozent, teilweise mehr als 70 Prozent. "Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig die Klimaziele des Pariser Abkommens sind, die Erwärmung auch im Falle einer vorübergehenden Überschreitung von 1,5 Grad auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen", betont Wunderling.
Unsichere zeitliche Prognosen
Unterdessen zeigt eine weitere Studie, über die im Fachblatt "Science Advances" berichtet wird, dass zeitliche Prognosen zu Kipppunkten mit großen Unsicherheiten behaftet sind. Eine zuverlässige zeitliche Vorhersage sei aus mehreren Gründen schwierig, schreibt das Team um Maya Ben-Yami, die an der Technischen Universität München (TUM) und am PIK arbeitet.
Konkret benennt die Studie drei Quellen, die zu den Unsicherheiten führen:
- Erstens würden für die Vorhersagen für die Zukunft Daten aus der Vergangenheit extrapoliert. Diese Annahmen könnten stark vereinfacht sein und entsprechend zu Fehlern führen.
- Zweitens gebe es nur wenige langfristige, direkte Beobachtungen des Klimasystems.
- Und drittens beinhalteten auch die historischen Klimadaten Lücken.
"Wir argumentieren, dass selbst unter der Annahme, dass sich eine bestimmte Erdsystemkomponente einem Kipppunkt nähert, die Unsicherheiten zu groß sind, um Kippzeitpunkte durch Extrapolation historischer Informationen zuverlässig abzuschätzen", schreibt die Forschungsgruppe.
"Es ist eine überzeugende Demonstration dafür, wie vorsichtig wir sein sollten, wenn wir aus statistischen Methoden genaue zeitliche Abläufe für Kipppunkte ableiten", fasst Eleanor Frajka-Williams vom Institut für Meereskunde der Universität Hamburg zusammen, die nicht an der Studie beteiligt war. (dpa/cze)
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