Vor mehr als 800 Jahren wurde er einer Erzählung nach in einen Brunnen geworfen. Die Person, von der in einem historischen norwegischen Text die Rede ist, gab es tatsächlich. Wissenschaftler konnten den "Brunnenmann" identifizieren - und sogar rekonstruieren, wie er aussah.

Mehr zum Thema Geschichte & Archäologie

Ein Zeitsprung zurück ins Jahr 1197: Die Bagler, Feinde des Königs, überfallen die norwegische Burg Sverresborg, die nahe dem heutigen Trondheim liegt. Kurze Zeit später wird der Überfall in der berühmten norwegischen Sverre-Saga beschrieben. Darin heißt es, die Bagler hätten alle Güter mitgenommen, die sich in der Burg befanden und dann alle Häuser niedergebrannt.

"Sie nahmen einen toten Mann und warfen ihn kopfüber in den Brunnen, trugen Steine hinein und legten sie darüber, bis der Brunnen voll war", steht dort weitergeschrieben. Laut dem Norwegian Institute for Cultural Heritage Research (NIKU) wird gemutmaßt, dass die Bagler dadurch die einzige Trinkquelle vergiften wollten.

Die Burg wurde um 1180 von König Sverre Sigurdsson erbaut, von dem die gleichnamigen Sagas handeln. Während des norwegischen Bürgerkriegs zwischen 1130 und 1240 unternahmen die Bagler mehrere Versuche, Sverresborg einzunehmen. Bis 1197 hielten die Birkebeiner, deren Führer König Sverre war, stand.

Bagler und Birkebeiner

  • Bagler war eine Partei zu Zeiten des norwegischen Bürgerkriegs (1130-1240), die sich hauptsächlich aus dem norwegischen Adel, dem Klerus und Kaufleuten zusammensetzte. Der Name Bagler geht auf das altnordische Wort "bagall" zurück, das Bischofsstab bedeutet.
  • Birkebeiner war der Name einer Rebellenpartei in Norwegen. Der Name geht auf die Unterstellung zurück, dass die Aufständischen so arm waren, dass sie ihre Schuhe aus Birkenrinde herstellten. Diese ursprünglich abwertende Bezeichnung übernahm die Partei für sich selbst und verwendete sie auch nach ihrer Machtübernahme im Jahr 1184 weiter. Sverre Sigurdsson war der König der Birkebeiner.

Skelett bei Ausgrabungen entdeckt: Es ist der "Brunnenmann" aus der Saga

Skelett im Brunnen
So wurde das Skelett 1938 aufgefunden. © Directorate for Cultural Heritage Archives

Bei Knochen, die im Jahr 1938 auf dem Grund des alten Brunnens gefunden wurden, kam gleich der Verdacht auf, dass es sich um den Mann aus der Saga handeln könnte. Doch den Forschern fehlten damals die technischen Möglichkeiten, mehr über das Skelett herauszufinden. Weitere Teile des Skeletts wurden zudem erst 2014 und 2016 geborgen.

Neue Methoden machten es jetzt schließlich möglich: Mithilfe alter DNA konnten sie die Ereignisse aus der Saga bestätigen, schreiben die Forschenden in einer Studie, die im Fachjournal "iScience" veröffentlicht wurde. Die Radiokarbondatierung belege, dass es sich um die Überreste des "Brunnenmannes" handelt.

"Das ist das erste Mal, dass eine Person, die in diesen historischen Texten beschrieben wird, tatsächlich gefunden wurde."

Michael D. Martin vom Universitätsmuseum der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie in Trondheim

Der Körper sei etwa 900 Jahre alt und Studien aus den Jahren 2014 und 2016 bestätigten, dass er zu einem Mann gehörte, der zum Zeitpunkt des Todes zwischen 30 und 40 Jahre alt war, heißt es in einer Mitteilung zur Studie. Er sei zwischen 1,75 und 1,80 Meter groß gewesen – ziemlich groß für die damalige Zeit. "Seine Gesichtszüge waren markant und maskulin, mit einer kräftigen Stirn und einer etwas hervorstehenden Nase", schreibt das Forschungsteam. Er hatte wahrscheinlich Rückenschmerzen und eine Lungenkrankheit, die ihm das Atmen erschwerte.

"Das ist das erste Mal, dass eine Person, die in diesen historischen Texten beschrieben wird, tatsächlich gefunden wurde", sagt Michael D. Martin vom Universitätsmuseum der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie in Trondheim. Alles deutet darauf hin, dass der Bericht aus der Sverre-Saga wirklich stattgefunden hat.

Archäologin: Mann wurde womöglich verletzt in den Brunnen geworfen

Allerdings sei der Text in der Saga "nicht komplett richtig", sagt die Archäologin Anna Petersén vom Norwegischen Institut für Kulturerbeforschung in Oslo. "Wir fanden heraus, dass die Realität viel komplexer ist, als in der Saga beschrieben."

Lesen Sie auch

Es scheine so, als ob der Mann schwer verletzt wurde, bevor er in den Brunnen geworfen wurde, berichtet sie der "New York Times" - also nicht tot, wie in der Saga geschrieben. "An der Rückseite seines Schädels befand sich eine frische Wunde, die möglicherweise durch einen Schlag auf den Kopf verursacht wurde." Zumindest könne man diesem "Opfer von Brutalität" nun "eine Identität und eine Geschichte gegeben haben, die vorher niemand wirklich kannte".

Forschende rekonstruieren Aussehen des "Brunnenmannes"

Mithilfe eines Zahns aus dem Skelett konnte das Team zudem das Genom des "Brunnenmannes" sequenzieren und rekonstruieren, wie dieser wohl aussah, als er noch lebte. Höchstwahrscheinlich hatte er blaue Augen und blondes oder hellbraunes Haar.

Illustration des "Brunnenmanns"
Der "Brunnenmann" war kräftig gebaut, groß für seine Zeit, blond, blauäugig und aus Agder. © Sara Langvik Berge, NIKU

Seine Vorfahren stammten wahrscheinlich aus der südlichsten norwegischen Grafschaft des heutigen West-Agder im Süden Norwegens. Rückschlüsse auf die Abstammung ließen sich dank vieler Referenzdate aus den Genomen moderner Norweger ziehen.

"Der größte Teil unserer Arbeit hängt von Referenzdaten ab", sagt Martin Rene Ellegaard von der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie. "Je mehr alte Genome wir sequenzieren und je mehr moderne Individuen wir sequenzieren, desto besser wird die Analyse in der Zukunft sein."

DNA-Analyse wirft auch Fragen auf

Die Herkunft des "Brunnenmannes" ist für das Forschungsteam "das überraschendste Ergebnis". In den Sagas wurde er als Birkebeiner und ein Mann aus Mittelnorwegen wahrgenommen. Schließlich ging man davon aus, dass die Feinde jemanden, der auf der Burg lebte, in den Brunnen geworfen hatten. Das DNA-Ergebnis zeigt jedoch, dass der Mann aus Südnorwegen stammte.

"War er ein Birkebeiner oder ein Bagler oder war er ein zufälliges Opfer? Das ist eine Frage, die vielleicht nie beantwortet wird."

Anna Petersén, Archäologin vom Norwegischen Institut für Kulturerbeforschung in Oslo

Das wirft laut dem Forschungsteam neue Fragen auf. Petersén sagt: "War er ein Birkebeiner oder ein Bagler oder war er ein zufälliges Opfer? Das ist eine Frage, die vielleicht nie beantwortet wird." Und sie fügt an: "Jetzt, da wir viel mehr über den Mann im Brunnen wissen, wäre es vielleicht angemessener, ihn in 'den Agdermann' umzubenennen."

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.