Der Finanzexperte Gerhard Schick kritisiert die Form, mit der die Schweizer Großbank Credit Suisse vor dem Zusammenbruch bewahrt wurde. Wieder einmal würden Risiken auf den Steuerzahler abgewälzt - so, als habe die Welt aus der Finanzkrise nichts gelernt. Ein Vorbild sieht der ehemalige Grünen-Abgeordnete in einem anderen G7-Staat.

Ein Interview

Herr Schick, hat die Welt vergangene Woche ihren zweiten Lehman-Moment erlebt?

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Gerhard Schick: Zumindest bestand zeitweise eine echte Gefahr. Dass die Credit Suisse nicht in eine unkontrollierte Pleite gerutscht ist, sondern im Rahmen einer problematischen Aktion gerettet wurde, hat uns vor diesem zweiten Lehman-Moment zumindest vorerst bewahrt.

Warum war die Rettungsaktion problematisch?

Anders als die Silicon Valley Bank in den USA gehört die Credit Suisse aufgrund ihrer Größe zu den systemrelevanten Banken. Sie ist schlicht zu groß, um einfach pleitegehen zu können, da die Folgen immens wären. Die europäischen Regierungen hatten sich nach der Finanzkrise 2008 eigentlich darauf verständigt, dieses "too big to fail"-Problem zu lösen und dafür zu sorgen, dass Risiken am Ende nicht mehr beim Steuerzahler landen, wenn zu große Institute in Schieflage geraten.

Das ist offensichtlich nicht gelungen, im Gegenteil: Die Rettung der Credit Suisse besteht darin, von der UBS übernommen zu werden. So entsteht aus zwei bereits systemrelevanten Banken jetzt ein noch größeres Institut. Was aber passiert, wenn irgendwann auch die neue UBS straucheln sollte, deren Bilanzsumme doppelt so groß ist, wie das gesamte Schweizer Bruttoinlandsprodukt? Dann haben wir ein riesiges Problem.

Bereits vor einem halben Jahr tauchten in den sozialen Netzwerken Posts auf, in denen über eine bevorstehende Pleite der Credit Suisse spekuliert wurde. Hat man in Bern ein halbes Jahr geschlafen?

Je kürzer die Frist ist, desto schwieriger wird das Gegensteuern. Viele der Maßnahmen, die wir bei Finanzwende für richtig halten, brauchen Vorlauf. Aber tatsächlich: Nach meinem Kenntnisstand war bereits im September klar, dass es bei der Credit Suisse ein Kapitalisierungsproblem gibt. In diesem Moment hätten die Aufseher noch gegensteuern können. Das hat man verpasst. Etwas, was mich an der Schweiz auch überrascht hat: Die Finanzaufsicht kann noch nicht einmal Bußgelder verhängen. Das müsste man dringend ändern.

Welchen Mechanismus hätten Sie als Schweizer Finanzminister am vergangenen Wochenende gewählt, um einen unkontrollierten Zusammenbruch der Credit Suisse zu verhindern?

Ich denke, dass eine temporäre Verstaatlichung, in der man die Bank saniert und später wieder verkauft hätte, den Bankenwettbewerb in der Schweiz bewahrt hätte. Wirklich optimal ist diese Lösung aber auch nicht.

Warum?

Man muss doch vorher vermeiden, überhaupt in staatliche Zwangssituationen zu kommen, in denen man mit kurzfristigen Notgesetzen arbeitet, die Eigentumsrechte von Aktionären außer Kraft setzt und eine ungeheure Unsicherheit am Finanzmarkt auslöst.

Woran denken Sie konkret?

Die Lehre aus der Finanzkrise 2008 war, dass man ein Trennbankensystem mit einer Brandmauer zwischen Investmentbanking- und Krediteinlagengeschäft schafft. Außerdem hatte man sich vorgenommen, die Eigenkapitalvorschriften der großen Banken deutlich zu erhöhen. Beides ist nicht gelungen. Auf Druck der Finanzlobby liegt die vorgeschriebene Eigenkapitalquote bei Großbanken bei vier bis fünf Prozent - das heißt: 95 Prozent der Bilanz sind schuldenfinanziert. Zum Vergleich: Realwirtschaftliche Unternehmen besitzen im Durchschnitt 30 Prozent Eigenkapitalquote. Die verantwortlichen Politiker lassen also zu, dass der Bankensektor extrem instabil arbeitet.

Im Fall der Credit Suisse waren Kapital und Liquidität aber nicht das Kernproblem, sondern ein Bank-Run, gegen den sich kaum eine Bank absichern kann, sofern sie nicht mit einer Eigenkapitalquote von 100 Prozent arbeitet.

Das stimmt, auch bei höheren Eigenkapitalquoten gibt es keine hundertprozentige Sicherheit gegen Bank-Runs. Aber die wichtige Frage ist ja, wie groß die Ansteckungsgefahr in solchen Fällen ist und wie stabil das Gesamtsystem arbeitet. Dabei spielt die Eigenkapitalquote eine entscheidende Rolle. Stellen Sie sich den Bankensektor wie ein Domino-Spiel vor. Entweder man setzt die Steine eng. Wenn einer kippt, dann kippen alle. Oder man lässt Puffer. Dann kann ein Stein kippen, ohne dass es alle trifft. Nur wenn alle Finanzmarktakteure ausreichende Verlustpuffer haben, kann jeder davon ausgehen, dass auch externe Schocks wie Pandemien oder Kriege keinen Moment auslösen, in dem das ganze System ins Schwanken gerät.

Wie groß sollten diese Puffer sein?

Wenn eine Bank einen Verlustpuffer von 10 oder 20 Prozent hat, kann relativ viel passieren, bis das Gesamtsystem kippt. Wenn man nur mit 4-5 Prozent kapitalisiert ist, ist jeder Verlustpuffer schnell aufgebraucht. Wissen Sie, warum die Bankkunden in den USA ihre Einlagen gerade von kleinen und mittelgroßen Banken auf große Institute umschichten?

Wieso?

Die Menschen verlassen sich darauf, dass der Staat die großen Banken im Zweifelsfall rettet. In mancher Vorstandsetage führt dieser falsche Anreiz offensichtlich zu der Haltung, man könne die dümmsten Geschäfte machen – und wenn es schief geht, zahlt der Staat. Die Credit Suisse hatte ja eine ganze Serie von Skandalen.

Falsche Finanzberichterstattung, Geschäfte mit Kriminellen, schlechtes Risikomanagement, Beschattung ehemaliger Mitarbeiter – um nur einige der vielen Skandale aus den letzten Jahren zu nennen.

Das war wirklich hanebüchen. Trotzdem haben sich die Mitarbeiter über die letzten zehn Jahre 32 Milliarden Franken an Bonuszahlungen gegönnt, während die Bank über den gleichen Zeitraum mehr als 3 Milliarden Franken Verluste geschrieben hat. Das ist eine Mentalität, die nur funktioniert, wenn man im Zweifel auf staatliche Rettung vertraut.

Die Schweizer Regierung würde jetzt sagen: Die Bank wurde gerade nicht verstaatlicht, sondern mit der UBS zwangsverheiratet. Das ist ein Unterschied, oder?

Naja, die Zentralbank stellt der UBS einen dreistelligen Milliardenbetrag zur Verfügung und der Staat übernimmt neun Milliarden Franken an Rechtsrisiken. Als Schweizer Steuerzahler würde ich mich jedenfalls nicht freuen, wenn ich die Rechtsrisiken aus illegalen Geschäften von Bankern, die ein Vielfaches von mir verdienen, übernehmen soll.

Schon heute wird nur ein Bruchteil bedeutender Transaktionen im M&A-Geschäft von europäischen Banken wie der Deutschen Bank oder der HSBC durchgeführt. Die Nase vorn haben amerikanische Großbanken wie Goldman Sachs oder Morgan Stanley. Würde Ihr Vorschlag, die Bilanzsumme europäischer Banken zu reduzieren, nicht darauf hinauslaufen, dass europäische Banken völlig abgehängt werden?

Damit haben Sie das Argument der Bankenbrache dafür vorgetragen, dass der Steuerzahler im Zweifel die Risiken übernehmen soll.

Aber hat das Argument nicht einen wahren Kern?

Ich nenne Ihnen ein positives Beispiel: Kanada ist ein G7-Staat, also wirtschaftlich durchaus bedeutend und hat einen relevanten Bankensektor. Trotzdem musste Kanada während der Finanzkrise 2008 keine einzige Bank mit Steuergeld retten, weil man dort zwei Dinge anders tat als in Europa und in den USA. Erstens, der Finanzminister hatte Fusionen von Banken, die nach einem Zusammenschluss "too big too fail" gewesen wären, verhindert. Zweitens, Kanada hatte Eigenkapitalvorschriften, die deutlich über dem internationalen Durchschnitt lagen. Trotzdem haben die kanadischen Banken die Wirtschaft zu jedem Zeitpunkt mit Liquidität versorgt. Ich finde, wir sollten im Interesse der Steuerzahler dem Beispiel Kanadas folgen.

Sie plädieren also für die Aufspaltung von europäischen Großbanken?

Ich bin nicht dafür, dass wir nur noch Sparkassen haben sollten. Aber es macht für die Frage, was im Ernstfall passiert, einen großen Unterschied, ob Sie Banken in einer Größenordnung von 200-300 Milliarden Euro Bilanzsumme haben, oder von 1,6 Billionen – wie jetzt im Fall der UBS.

Auch wenn der UBS-Vorstand versucht hat, den Kauf der Credit Suisse als großen Erfolg zu verkaufen, birgt die Integration große Risiken. Was würde es für die Schweiz bedeuten, wenn die UBS in Schieflage gerät?

Das ist abstrakt gar nicht so leicht zu beantworten. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass in diesem Fall relevante Finanzmarktakteure ihr Vertrauen in die Schweiz verlieren. Spätestens wenn sich die Frage stellt, ob der gesamte Schweizer Staat noch leistungsfähig ist, hätte das Konsequenzen an den internationalen Finanzmärkten und in der Realwirtschaft. Das wäre ein echtes Desaster. Ich hoffe deshalb, dass die Kartellbehörden zeitnah durchsetzen, dass die UBS relevante Teile abverkaufen muss, um das Risiko zu reduzieren.

Sehen Sie aktuell eine Ansteckungsgefahr für andere europäische Institute?

Es trifft am Ende immer den Schwächsten in der Kette und das war in diesem Fall eindeutig die Credit Suisse. Aber auch in den Bilanzen anderer europäischer Banken schlummern stille Lasten. Gleichwohl habe ich keinen konkreten Hinweis darauf, dass es in Deutschland gerade größere Probleme gibt.

Heißt das, dass die Krise vorbei ist?

Keinesfalls. Wir wissen nur nicht, wie es weitergeht. Die Finanzkrise 2008 hatte sich ja auch in Zyklen entwickelt: 2006 mit den ersten Hedgefonds, 2007 mit der IKB, Northern Rock oder der Sachsen-LB. Und erst ein Jahr, nachdem die ersten Probleme sichtbar geworden waren, kam es zu besagtem Lehman-Moment. So ein Szenario ist Stand heute nicht ausgeschlossen.

Über den Experten:
Der promovierte Volkswirt Gerhard Schick galt bis zu seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag 2018 als einer der profiliertesten Finanzpolitiker der Grünen. Heute leitet er den Verein "Bürgerbewegung Finanzwende", der sich für eine nachhaltige Finanzwirtschaft einsetzt.
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